Zehn Tage noch bis Weihnachten, und auch wenn sich bei uns bei nicht abkühlender Schwüle keine Weihnachtsgefühle einstellen, wir fiebern auf das Datum hin. Alberto, unser Mechaniker, will das Auto vor den Feiertagen fertig haben. Denn es ist jetzt schon klar, zwischen Weihnachten und Heilige Drei Könige wird nicht viel passieren, Ersatzteilkauf wird ein Ding der Unmöglichkeit.
Wir leben in unserem Auto, in der Einfahrt. Rechts die Werkstatt und Albertos Haus, links wohnt seine Tochter Naty mit ihrer Familie. Und wir mitten im Weg.
Wartend, dass wir endlich reisen können, endlich darf man sich im Land bewegen und wir sitzen schon wieder fest.
Alberto schraubt vormittags ein paar Stunden, wenn es nicht zu heiß ist, und steht nach der Siesta bis spät in die Nacht vor dem Motor. Ab und zu stehen wir ein paar Stunden daneben, lernen immer spezifischere Vokabeln und vor allem, dass so ein Motor doch nicht ganz so unverständlich ist, wie auf den ersten Blick. Ich bin oft bei Naty, spiele mit der dreijährigen Emma, die sonst immer mitreparieren will, was sie natürlich auch ab und zu machen darf.

Die Tage gestalten sich sehr ähnlich, es wird immer heißer und wir wollen in den kühleren Süden, Freunde aus San Martín de los Andes besuchen, Pinguine sehen und Wale beobachten.
Abends spazieren wir oft ins Zentrum, Bars und Restaurants haben offen, die Stadt ist nicht schön. Industrie-Hafenstadt, kaum grün, angestaute Sommerhitze.
Die Verdulería einen Block weiter wird schnell unser Stammgemüseladen, die Verkäufer*innen im Käseladen kennen uns gut und wir leben wieder einen Wartealltag, zum Glück mit absehbarem Ende.
Naty fragt nach einem Streuselkuchenrezept, ich im Austausch nach einem für Empanada-Teig.

Am nächsten Abend, unserem letzten, stehe ich mit in der engen Küche, der Ventilator wirbelt die angestaute Luft auf. Emma rennt zwischen uns umher und präsentiert immer wieder stolz ein anderes Spielzeug. Ich stehe mit Notizbuch bewaffnet in der Küche.
Wie immer trage ich Maske im Haus, doch jetzt, nach zwei Wochen, werden wir im Haushalt aufgenommen. Zumindest symbolisch, die Maske wird abgelegt, wir haben sowieso nur Kontakt miteinander.
Den ganzen Abend sind wir zusammen in der engen Küche und so, wie sich unser Spanisch mit Alberto stark verbessert, erweitern wir mit Naty noch um mehr Kochvokabeln.
Zwei verschiedene Füllungen, Teig, alles ausrollen mit der Nudelmaschine und ausstanzen. Der so leicht aussehende Part, alles in schöne, gleichmäßige Teigtaschen zu verwandeln, wie immer komplizierter als gedacht. Meine Empanadas sehen noch nicht schön aus, halten zusammen, aber die kleinen Drehungen sind nicht annähernd gleichmäßig und immer wieder kommen kleine Risse in den Teig.
Abends sitzen wir lange zusammen bei Alberto am großen Tisch, hören uns Geschichten aus seiner Jugend an, über die Zeit der Militärdiktatur, verschiedenste Reisende, die bei ihm steckengeblieben sind. Wein wird aus der großen Kanne immer wieder in die Flasche am Tisch eingeschenkt. Fast ein Abschlussessen, einen Tag wird er noch brauchen, dann können wir los. Pünktlich an Weihnachten.
Den nächsten Vormittag werden noch letzte Schrauben angebracht und ein bisschen probegefahren. Ich bin mit Naty in der engen Küche, alle Öfen sind an, Pan dulce wird für Weihnachten vorbereitet. Pollo enrollado, eine Art Hühnerrollbraten, kalt für die Vorspeise.
Weihnachtsstimmung kommt nicht auf, dafür immer mehr Vorfreude auf Patagonien.
Am nächsten Morgen noch einmal in den Ort, dann, endlich, los.
Euphorisch verabschieden wir uns von allen, Abschiedsselfie und los. Weihnachtsgrüße an Freunde und Familie schicken, es ist später Nachmittag, aber endlich kommen wir los, die Sommerferien gehen noch bis März und wahrscheinlich bleibt es auch so lange möglich zu reisen. Musik laut aufgedreht und langsam dünnen die Häuser aus und wir sind raus aus der Stadt. Industriegebiete und eine große Tankstelle und plötzlich rollt David auf den breiten Standstreifen und LKW-Wendeplatz gegenüber. Nur noch die Musik ist laut, der Motor gibt keinen Ton von sich.
Und startet nicht mehr. Klingt böse. Wir brechen in Lachen aus, können uns kaum halten.
Alberto ist etwas ratlos, naja, das Auto ist alt und wir ja noch in der Nähe. Knapp hinter der Stadt, dreißig Kilometer. Wir probieren ein bisschen an den Schläuchen rumzuwackeln, sind uns aber sehr schnell einig, dass wir trotz der zwei Wochen beim Reparieren zuschauen keine Ahnung haben. Prinzipiell so gar nicht.
Auch nicht, was wir jetzt tun sollen.
Heiligabend, es sind nur noch ein paar LKW auf der normalerweise viel befahrenen Straße unterwegs und wir winken ihnen ratlos zu.
David geht zur Tankstelle rumfragen, Alberto probiert jemanden zum Abschleppen zu organisieren und ich rufe ein bisschen überfordert beim ADAC an, so wurde das in der Fahrschule erklärt.
Es wird auch sofort abgehoben und mitgeteilt, dass es zwar an sich auch Partnerfirmen in anderen Ländern gibt, aber zum einen sind wir gar nicht Premium-Mitglieder, zum anderen gibt es auch keine Kontakte in Argentinien. In Deutschland ist es Nacht und wir quatschen noch ein bisschen mit dem Mitarbeiter, sehr lieber Mensch, nur leider hat auch er keine Idee.Über die Tankstelle bekommen wir eine Nummer, wie immer alles über WhatsApp, und wir sitzen wartend und immer noch ungläubig im Auto. Die Sonne geht langsam unter, man, wo könnten wir jetzt schon überall sein.
Menschen, denen wir Weihnachtsgrüße und die freudige Nachricht vom reparierten Auto und damit verknüpften Reisestart geschrieben haben, beglückwünschen uns. Heute ignorieren wir alles.
Wir sitzen weiter hinten im Auto, der Mann mit Minihund und Abschleppwagen zieht uns auf die Ladefläche und wir machen auf erhöhter Position eine Wendung und fahren, den Sonnenuntergang im Rücken, Richtung Bahía Blanca.

Wir werden vor der Werkstatt abgeladen, die ganze Stadt riecht nach Asado und der Mann vom Abschleppdienst empfiehlt uns noch ein Hotel in der Nähe. Wir schauen ihn verdutzt an. Nein, nein, wir kennen den Mechaniker, wir können hier schlafen. Haben wir die letzten zwei Wochen auch gemacht. Feliz navidad von unsund das große Schiebetor zur Werkstatt öffnet sich, Alberto kommt schulterzuckend raus, Emma ist begeistert.
Der Platz in der Mitte der Einfahrt, wo unser Auto stand, ist besetzt, zwei weitere Menschen sind da, der Sohn von Alberto und seine Frau. Tische stehen rum, Bier- und Weinflaschen, Feuer in der Parrilla. Lachend werden wir sofort willkommen geheißen, ein markiertes Bierglas für jede*n, stolz wird das halbe Lechón, Ferkel, auf dem Grill präsentiert, eingebettet von verschiedensten anderen Stücken Fleisch und Würsten. Eine kurze Erinnerung an San Rafael und die Arbeit auf dem Schweinehof flackert auf, die kleinen sind jetzt auch alle auf einem Grill, wenn sie nicht schon die letzten Monate verspeist wurden. Schnell beiseite geschoben, tausendmal lieber hier bei den Menschen als auf dem Hof.
Wir erzählen vom Steckenbleiben, quatschen, trinken, ja, könnte deutlich schlimmer sein. Ist jetzt so. Wir sind beide überrascht, dass es uns so gut geht.
Die zwei Enkeltöchter kommen noch, beide in unserem Alter und sprechen Englisch, was die gesamte Kommunikation deutlich leichter macht und wir endlich noch ein paar Geschichten erzählen können, wofür unser Spanisch nur für die grobe Handlung gereicht hatte. Das vorbereitete Essen der letzten Tage kommt auf den Tisch, Pollo enrollado, Vitello Tonnato aus Zunge, eine Picada, Salate. Unfassbar viel Essen. Alles wird herumgereicht, Familientischchaos, wir fühlen uns aufgehoben, wenn auch nicht weihnachtlich. Ist auch viel zu warm, der Ventilator brummt im Hintergrund, Musik läuft.
Irgendwann werden Fleischstücke vom Grill geholt, uns wird immer wieder der Teller voll beladen, wir sind schon nach der Vorspeise voll. Kurz vor Mitternacht wird alles abgeräumt, wir kommen nicht ganz mit, alle sind aufgeregt. Punkt Mitternacht, Feuerwerkslärm in der Stadt, der Hund findet es alles eher komisch, lässt sich aber mit Knochen beschäftigen, Emma findet es auch blöd, weil der Hund es blöd findet, der Rest stößt an. Endlich, feliz navidad! Und für uns erklärt sich, warum uns den ganzen Tag über keine frohen Weihnachten gewünscht wurden, wir ein bisschen schräg angeschaut wurden bei jedem Fröhliche Weihnachten! von uns. Wir wollen draußen das Feuerwerk anschauen, aber die Böller machen nur Lärm und keine bunten Lichter. Drinnen werden die verschiedensten Nachtische aufgebaut, Obstsalat und Eissorten, Pan dulce und Budín de pan, Torte und Liköre. Wir essen kleinste Stückchen von allem, Naty warnt mich bei allem, dass es mir zu süß ist. Wie auch der Sekt – ich bleib bei Champagner.
Die Enkeltöchter gehen noch auf eine Party, Emma geht irgendwann ins Bett und wir bleiben mit Alberto sitzen, trinken, quatschen. Passt schon alles, kann auch kein größeres Problem mehr am Auto sein, werden wir von allen Seiten beschwichtigt.
Leider doch, stellen wir nach den Feiertagen fest. Unsere erste Angst, dass Alberto auf uns professioneller wirkt, als er ist, und gestümpert hat, bestätigt sich zum Glück nicht. Zufälligerweise ist der Motor einfach kaputt gegangen. So ganz bekommen wir es nicht zusammen, aber Ringe um die Kurbelwelle sind geschmolzen, alles überhitzt. Einfach kaputt. Und was bei der ersten Reparatur eine drohende Sorge und eine Deadline war, ist jetzt Realität. Alberto kann zwar zwischen den Feiertagen arbeiten, aber falls Ersatzteile gebraucht werden, die sich nicht in einer der unzähligen Kisten in seinem Lager finden lassen, sind wir noch mindestens zwei Wochen da. Und dann muss noch alles verbaut werden. Patagonien verschiebt sich tausende Kilometer weiter in den Süden. Vor Ende der Sommerferien und damit wahrscheinlich auch Ende der Lockerungen werden wir nicht annähernd unseren angedachten Weg schaffen.
Es ist sehr bald klar, dass es noch dauern wird.
Neujahr in kleiner Runde, Asado mit Semmelknödeln. Ab und zu kochen wir zusammen, sitzen lange beieinander. Wir sind in einem Wartezustand gefangen, die Zeit vergeht stehend.

Es ist Hochsommer, vierzig Grad tagsüber im Schatten, paar-und-zwanzig nachts.
Die Hitze staut sich im schlauchartigen Innenhof, während bei der schlimmsten Hitze alle Siesta machen und in den dunklen Häusern vor den Ventilatoren hängen, sitzen wir in der Werkstatt, dem schattigsten Ort, in feuchte Tücher gewickelt und haben keine Energie für irgendwas. Handy und Laptop überhitzen, manchmal legen wir uns auf den Boden und probieren ein bisschen zu dösen. Und während alle anderen nachts Energie haben, erst um 23:00 Uhr zu Abend essen und dann noch durch den Ort spazieren, versuchen wir zu schlafen, dick mit Mückenmittel eingecremt und am nächsten Morgen wieder zerstochen und übermüdet. Alles zieht sich, wir suchen vergeblich einen kleinen Ventilator, irgendwann soll es noch heißer werden und wir mieten uns für ein paar Tage eine kleine AirBnB-Wohnung, können auch die offenen Bars und Restaurants genießen, während in Deutschland alles zu ist.
Die Tage verschwimmen zu einer zeitlosen Phase.
Am 30. Januar können wir los.
