
Schlange stehen, warten, bis die Grenzbeamten auf’s Schiff kommen. Mit einer Stunde Verspätung ist es dann soweit und wir bekommen unseren Stempel in den Pass. Neunzig Tage Brasilien, bei denen wir jetzt schon ahnen, dass wir sie voll ausnutzen werden. Bis zum 27. Februar 2020 haben wir Zeit das Land zu erkunden.
Endlich runter vom Schiff, mit dem Shuttle zu einer Gepäckkontrolle, in der unsere Rucksäcke nicht kontrolliert werden und plötzlich stehen wir auf einem Parkplatz mit lauter Blaskapellenmusik im Hintergrund als Willkommensgruß für die Passagiere und sind frei. Endlich.
Natürlich wird uns von allen Seiten ein Taxi angeboten, wir
wollen Bus fahren und bekommen das erste Mal Brasilien mit.
Wir
fragen viele Leute, um endlich zu einer Bushaltestelle zu kommen und
dann stehen wir da. Keine Busnummern sind angeschrieben, kein
Stadtplan, Linienplan oder Fahrplan hängt aus. Auch wenn bei
letzterem sowieso die Frage ist, ob es existiert. Und vor allem sind
alle drei Spuren Einbahnstraße leider nicht in unsere Richtung und
unsere Straße nicht in Sicht. Es sind gute dreißig Grad, hohe
Luftfeuchtigkeit. Unsere Klamotten kleben an uns und an den
Rucksäcken, Kopf und Arme verbrennen langsam. Aber wir wollen
öffentlich fahren!
Also los, Leute fragen und merken, das Klischee, hier wird nur
Portugiesisch gesprochen, stimmt. Weder Englisch noch Spanisch
hilft uns weiter, GoogleTranslator ist noch nicht offline und eine
SIM-Card haben wir auch noch nicht.
Irgendwann finden wir
zumindest die richtige Straße, von Plänen keine Spur. Klingt jetzt
nach ein paar Wochen Brasilien auch nicht mehr überraschend, aber in
einer (modernen) Großstadt wie Recife waren wir optimistisch.

Irgendwann sehen wir Busse, laufen nochmal ein gutes Stück und fragen dann die Busfahrer, ob sie zu einer Metrostation fahren. Einer lässt uns rein, zahlen müssen wir nichts und er nimmt uns mit. Immer in Diskussion mit den anderen Fahrgästen, was jetzt wohl der beste und schnellste Weg für uns ist. Eine Frau bringt uns von der Bushaltestelle zur Metrostation, führt uns durch das Verkehrschaos, vorbei an Ständen mit frittierten Teigtaschen, Handyhüllen und Fischen. Zierfische in Plastikbeuteln, dazu Aquariumbedarf. Brauchen wir alles nicht, wir wollen schnell zu unserem Couchsurfinghost, dem wir immer noch nicht schreiben konnten, dass wir viel später als erwartet bei ihm sein werden. Unsere Vorstellung war etwas naiv, ja, aber es klappt trotzdem irgendwie. An der Metrostation kaufen wir uns Tickets, haben von einem Freund in Deutschland ein paar Real bekommen, um nicht komplett aufgeschmissen zu sein, über die wir jetzt sehr dankbar sind. Einen Bankautomat sehen wir mit meterlanger Schlange davor. Jetzt weiter zur U-Bahn, wir probieren noch eine SIM-Card zu kaufen, was aufgrund fehlender Sprachkenntnisse und fehlender CPF-Nummer (Sozialversicherungsnummer) nicht klappt. Die hat jeder Brasilianer zur Identifikation. Eigentlich soll unsere Passnummer auch reichen, es zieht sich ewig und wir geben auf. In der optimistischen Erwartung nachmittags einen englisch-sprechenden Kartenverkäufer zu finden, bei dem wir, problemlos und unbürokratisch wie in Marokko, Internet auf’s Smartphone bekommen.
Am Bahnsteig ist es voll von Straßenverkäufern die in
Dauerschleife im Singsang eisgekühltes Wasser, Wassereis und Snacks
anbieten. ÁguageladaÁguageladaÁguagelada
ÁguageladaÁguageladaÁguagelada ÁguageladaÁguageladaÁguagelada.
Von allen Seiten und wir sitzen verloren zwischen ihnen.
Die U-Bahn fährt ein und wir steigen mit noch viel mehr Menschen mit Bauchläden und Kühltaschen ein, die ihre Ware lauthals feilbieten. Neben dem Wasser auch Handyzubehör, Spielzeug, Schokolade und Chips. Immer wieder kauft jemand was und bekommt alles nochmal zusätzlich in kleinen Plastiktüten, die dann mit der eigentlichen Verpackung sofort weggeschmissen werden. Ein Mann läuft rum und bietet Wurstaufschnitt in der Packung an, scheint aber kein Bedarf da zu sein, er verkauft nichts.

Unser Host ist nicht zuhause, der Portier, der das Hochhaus
bewacht, gibt uns die Schlüssel und wir sind endlich da. Dusche,
umziehen und dann Essen suchen.
Recife ist riesig und nicht
unbedingt eine Stadt zum verlieben, Hochhausblöcke, in den guten
Vierteln renoviert und mit Sicherheitspersonal, in der Innenstadt
runtergekommen, vollgesprayt und abgefuckt. Dazwischen
Billigklamottenläden und Essensstände, bei denen vor allem Coxinhas
angeboten werden, die man dann an den kleinen Plastiktischen essen
kann. Dazu Coco gelada, eine eiskalte, grüne Kokosnuss zum
austrinken. Zwischen den Ständen immer wieder Bars, die 600ml
Bierflaschen, gerade nicht tiefgefroren, mit zwei kleinen Gläsern
servieren. Nach ein paar Wochen kann man sich nicht mehr vorstellen,
eine ganze Hoibe alleine zu trinken. Kommt aber sicher schnell
wieder.
Direkt neben Recife ist Olinda, mit gut erhaltenen Kolonialbauten und bei unserem Besuch gerade mit Karnevaltraining beschäftigt. Trommelgruppen und Tänzer, Essens- und Bierverkäufer, alles voller Menschen, trotzdem entspannt und ausgelassen. In dieses Städtchen verlieben wir uns sofort, vielleicht auch ein kleines bisschen, weil wir nach mehrstündiger Busfahrt sehr erleichtert sind, endlich anzukommen. Da ein wichtiges Fußballspiel war, war alles mit Festwägen blockiert und unser Busfahrer ist dazwischen gefahren, ohne auf die Nachbarstraße auszuweichen. Überraschenderweise hat sich niemand dran gestört.
Die restlichen Tage Recife verbringen wir wieder viel im Bus oder auf der Suche nach dem Bus, viel auf der Suche nach einer SIM-Card oder dem Warten, ob es diesmal geklappt hat – nein – und viel Zeit in der Wohnung, k.o. vor dem Ventilator.

Und dann geht es los. Endlich wieder Trampstrecke machen, endlich
wieder bei einem Projekt mithelfen und endlich einmal an einem Ort
für mehr als einen Monat bleiben.
Wir haben ein Festival,
Ressonar, in Chapada Diamantina gefunden. Ein Psy-Festival in einem
Nationalpark kling perfekt für uns, also kommen die Rucksäcke auf
den Rücken und wir trampen das erste Mal in Brasilien.
Wir kommen an unserer ersten Tankstelle an, der Polizist und die Tankstellenmitarbeiter machen uns wenig Hoffnung, dass wir jemanden finden. Die ganzen Trucks sind jetzt gegen 9:00 Uhr schon weg, PKW werden nicht wirklich lange Strecken fahren. Wäre auch kein Problem für uns, Tagesziel ist, auf die Straße zu kommen. Nach zwei Stunden warten, gefüllt mit vielen Gesprächen, nimmt uns Fagner mit. Mit ihm fahren wir 200km vorbei an brennenden Feldern (er erklärt, das Zuckerrohr wird abgebrannt um den Zucker zu konzentrieren) und stehen im Stau vor einem brennenden LKW. Am frühen Abend kommen wir bei einer Tankstelle an, dürfen da unser Zelt aufschlagen und hoffen am nächsten Morgen auf einen LKW.


Klappt leider nicht und wir sprechen wieder Autos an. Viele. Und erstmal nimmt uns keines mit. Voll, falsche Richtung, keine Lust.
Irgendwann sehen wir einen geräumigen, nicht annähernd vollen Minibus. 13 Sitze, 3 davon besetzt. Sieht nach langer Strecke aus. Und wir gehen schnellen Schrittes mit schönstem Lächeln auf den Fahrer zu und dürfen, nach einiger Überzeugungsarbeit tatsächlich mit. Eineinhalb Tage, mehr als die Hälfte unserer Strecke. Am ersten Tag fahren wir zehn Stunden, am nächsten nochmal eine gute Stunde und dann stehen wir wieder.

Der Platz ist nicht gut, die meisten Leute fahren in die andere Richtung und die Sonne steht im Zenit, nur ein dünner Schattenstrich unter dem Verkehrsschild. Ein Auto hält, die Rückbank ohne Rückbank, aber wir wollen weg und der Fahrer sagt, er fährt nah Chapada Diamantina. Und auch wenn wir ihn nicht wirklich verstehen, steigen wir ein und fahren mit ihm zusammen in die falsche Richtung. Er sagt aber immer wieder, er fahre nach Chapada Diamantina und es gibt auch noch weitere Verbindungsstraßen, vielleicht muss er ja nur was abholen und fährt einen Umweg. Oder er fährt nach Chapada in der Region Diamentina hunderte Kilometer von unserem Chapada Diamantina entfernt.
Zweiteres stimmt und es klärt sich noch schnell genug auf, damit wir an einem Kreisel mit einer Verbindungsstraße rausgelassen werden können. Der Platz ist auch deutlich besser als der vorherige. Schatten und Kokosnussverkäufer, die dösend vor dem Kühlschrank liegen. Wir kaufen eine, setzen uns auf die Rucksäcke und springen jedes Mal, wenn ein Auto die staubige Straße lang kommt, motiviert auf, um dem Fahrer unser Schild entgegen zu strecken. Mit der Zeit kommen noch zwei ältere Männer dazu, die deutlich weniger motiviert trampen. Daumen raus oder nur nicken.
Ein Auto hält und nimmt uns beide und einen der Männer mit zum nächsten Ortseingang.


Da so wenig los ist, müssen wir auf jeden Fall zum Ortsausgang, also Rucksäcke auf den Rücken und los. Durch die Mittagshitze an der Schattenlosen Straße entlang. Sonnenverbrannt und durchgeschwitzt lassen wir uns in einer kleinen Bar das Wasser auffüllen und trinken den ersten Liter, zur Belustigung der Angestellten, in fast einem Zug leer. Nach einer Dreiviertelstunde sitzen wir dann endlich im Schatten einer Tankstelle, die auf GoogleMaps deutlich größer aussieht, aber nur aus zwei Zapfsäulen, einem Restaurant und kleinen Laden im Umbau und ein paar Bier trinkenden Männern besteht. Wasser haben wir noch, also wollen wir eine kleine Pause machen und halten recht unmotiviert unser Schild der tankenden Schrottmühle hin. Was uns aber tatsächlich einen Ort weiter fährt, wieder Ortseingang, aber nochmal laufen wollen wir nicht.
Eine Stunde zu Fuß mit den 18kg auf dem Rücken, Brotzeittasche und Gitarre in den Händen, macht keinen Spaß. Und auch wenn der Ort größerer Knotenpunkt ist, als wir nach Bussen oder öffentlichem Nahverkehr fragen, werden wir sehr freundlich ausgelacht. Moto-Taxis gibt es, aber mit den Rucksäcken wollen wir nicht Moped fahren und die Fahrer uns auch nicht mitnehmen. Wir gehen zu einer kleinen, innerstädtischen Tankstelle und hoffen ein Auto zu finden, was Richtung Ortsausgang fährt und unsere Strecke etwas verkürzt. Tatsächlich nimmt uns Joel, der erste, den wir ansprechen, in seinem Pick-Up mit. David auf der Ladefläche mit Gepäck, Klara auf dem Beifahrersitz mit Klimaanlage. Und auch wenn Joel eigentlich gar nicht aus dem Ort rausfahren muss, fährt er uns direkt zur Tankstelle, er hat Zeit. Und da heißt es wieder warten für uns, aber mit eiskaltem Wasser, Schatten und einem tollen Platz direkt vor dem Restaurantausgang, wo wir jeden ansprechen können.

Die Tankstellenmitarbeiter fragen für uns die tankenden Autos und so ist es ein nicht sehr ergiebiger, aber entspannter Trampspätnachmittag. Irgendwann, kurz vor Sonnenuntergang, kommt noch ein Paar an, die wir noch fragen. Lachen und Daumen hoch, verschwinden aber sofort im Restaurant. Wir sind uns erst mal sehr unsicher, ob sie uns nur ausgelacht haben oder uns mitnehmen. Wir sehen sie im Außenbereich vom Restaurant sitzen vor leeren Tellern und ihren Handys. Irgendwann fragen wir nach, sie nehmen uns mit. Rasend, an allen Seiten andere Autos überholen und gleichzeitig mit uns ein Portugiesisch-Spanisch-Französisch-Englisch-Kauderwelsch sprechend, kommen wir nach einer Stunde an. Feierabendbier, Zelt aufbauen und dann schlafen. Wieder mit der Hoffnung auf einen Truck am nächsten Tag.
Den letzten Tramptag nach Piatã fangen wir früh an, leider wieder ohne LKW. Es wird immer ländlicher, die Orte kleiner und immer weniger Autos sind unterwegs, schon gar keine langen Strecken. Natürlich ist es leichter, Leute an der Tankstelle anzusprechen, als an der Straße anzuhalten, aber es ist so wenig los, dass wir kein Auto verpassen wollen. Also wieder mit Schild an die Straße und warten.
In Brasilien ist es ähnlich wie in Marokko so, dass viele von unseren Lifts sagen, normalerweise nehmen sie keine Tramper mit, schon gar keine aus dem eigenen Land. Aber uns als Ausländer, als Deutsche, kann man ja vertrauen. Und während man in Marokko auch gut von der Straße aus als Ausländer erkannt wird und mitgenommen wird, fallen wir hier in Brasilien viel weniger auf, die Leute sind noch ängstlicher und die Wartezeiten länger. Es kommt auch immer wieder zu Überfällen, zu einem gewissen Teil ist die Angst sicher berechtigt, aber es ist komisch aufgrund seiner Nationalität mitgenommen zu werden, auch wenn es für uns zum Vorteil ist. Wir werden trotzdem non-stop vor anderen Brasilianern gewarnt, gefragt, ob wir Drogen oder Waffen dabei haben und meistens eher kritisch beäugt und nicht so stürmisch Willkommen geheißen wie in Marokko. Sobald wir aber in einem Auto mitfahren, uns mit den Leuten unterhalten, erleben wir wieder wahnsinnig liebe, offene und gastfreundliche Menschen.

Und irgendwann hält auch diesmal ein Auto für uns, ein Abschleppwagen mit zwei Beifahrersitzen, auf die wir uns mit dem Gepäck quetschen können. Kaum Luft zum Atmen, aber wir kommen nach gut einer Stunde in den nächsten größeren Ort. An der Tankstelle können wir schön zuckerfreien Kaffee trinken (Leider ist der normale café hier mit Zucker, zuckerfreier nicht üblich und oft ein Problem zu bekommen, aber ab und zu hat man Glück und bekommt seinen café sem azucar), im Schatten sitzen und die ab und zu raus fahrenden Autos ansprechen. Die meisten bleiben im Ort, wir sind aber entspannt, es ist nicht mehr weit und noch nicht allzu spät. Jefferson hat Platz im Auto, fährt in die richtige Richtung und würde uns auch mitnehmen, doch es gibt ein Problem. Dauert etwas, bis wir es verstehen, aber er will uns nicht an der Straße rauslassen, weil er es zu gefährlich findet. Wir finden noch eine Tankstelle, dann sind wir zumindest aus dem Ort raus und bis dahin nimmt er uns gerne mit. David kann sich mit ihm auf Spanisch unterhalten und an der Tankstelle schmeißt er uns nicht sofort raus, sondern erkundigt sich erst bei den Mitarbeitern, ob der von uns angestrebte Kreisel wirklich so gefährlich sei. Zwar meint der Mitarbeiter, dass es am nächsten Morgen mit Trucks sicher leichter und schneller sei, beruhigt unseren Fahrer aber und er fährt uns bis zum Kreisel. Und gibt plötzlich Gas. Er fährt in unsere Richtung, vielleicht hat er einen besseren Platz gefunden? Aber er fährt immer schneller an den schönen Schattenplätzen vorbei und überholt Autos, die vor uns fahren. Und bringt eines zum Anhalten, fragt, ob es in die richtige Richtung fährt und beteuert, dass man uns beiden Deutschen vertrauen kann, und tatsächlich bekommen wir so direkt unseren nächsten Lift organisiert. Wir fahren mit ihm die Schlaglochübersähte Straße lang und werden uns nie wieder über deutsche Straßen beschweren. Man kann hier maximal 50 km/h fahren, eher weniger, braucht beide Spuren, um all den tiefen Löchern ausweichen zu können und probiert so schleichend die gröbsten Aussetzer zu vermeiden.

Und endlich dürfen wir LKW fahren. Also mitfahren. Nach einer halben Stunde am Straßenrand hinter einem Bremshügel, die innerorts überall sind und perfekt zum Trampen, weil jedes Auto davor abbremsen muss, hält überraschend ein LKW und nimmt uns die letzten 50km mit nach Piatã. Die Fahrt dauert nochmal zwei Stunden. Zeit, um sich in die Gegend zu verlieben. Die Berge sind grün bewachsen, alles riecht nach schwerem Blütenduft, rot leuchtende Bäume stehen verteilt in der satten Landschaft. Immer wieder kahle Felsen, die wie Pilze aus den Hügeln wachsen. Steile Berge mit Grasplateaus und die Landschaft endet in keine Richtung, wird durch keine große Stadt unterbrochen, nur ab und zu stehen vereinzelte Häuseransammlungen in Sichtweite. Männer- und Frauengruppen vor kleinen Geschäften, die meist mürrisch in die Sonne blicken, strahlend zurück grinsen, wenn man den Daumen nach oben hält zum Gruß.


Nach vier Tagen trampen und knapp eineinhalb Tausend Kilometern kommen wir an, auch wenn es auf der Karte in diesem riesigen Land immer noch nach Lüste aussieht. Die Bergketten im Hintergrund bleiben für die nächsten eineinhalb Monate, die wir hier mit dem Aufbau des Ressonar-Festivals verbringen, unsere Begleiter.
