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Immer noch am gleichen Fleck

Brücke im Ort

Eingekesselt von niedrigen Bergen, hohen Hügeln. Dunkelgrün bewachsen und angeblich ein riesiger See am Ortsende, den können wir nicht besuchen, es gibt eine Ausgangssperre. In Argentinien gibt es um die hundert Fälle Corona-Infizierter, das Land ist abgeriegelt und wir sehen die wunderschöne Landschaft aus dem Fenster. Halb verdeckt von einem Apfelbaum mit dicken, grünen Äpfeln, die ab und zu und immer häufiger scheppernd auf das kleine, silberne Auto des Nachbarn fallen.

Noch bunt auf den Bergen

Ersteinmal zwei Wochen Ausgangssperre.
Nur zum Einkaufen des Nötigsten darf man raus und auch nur alleine, wie wir bei einer Polizeikontrolle gemeinsam feststellen.
Wir sind in den ersten Tagen zusammen unterwegs, schleichen uns so oft wie möglich zum Einkaufen und schlendern durch die Straßen des kleinen Örtchens. Die Häuser mit spitzen Dächern, viel Holz und eingelassenen Steinmauern. Je nach Alter hohe, schmale Fenster oder eine gesamte Front aus Glas, bei der man in das Innere der Häuschen luren kann. Fast jedes Haus vermietet auch Zimmer oder kleine Hütten. Jetzt leuchtet keines der Hay lugar! Schilder. Alles geschlossen und ruhig, schönstes Spätsommer- oder Frühherbstwetter.

Musik an und tanzen
Jeden Tag aufwendig kochen

Und wir spazieren grinsend durch die Stadt. Wir dürfen bleiben und sind glücklich, genießen ein Zimmer nur für uns, eine Küche mit Backofen und zwei Kühlschrankfächer für eigene Vorräte. Um die aufzustocken nutzen wir jede Gelegenheit, schlendern zum Supermarkt, zu den Minimärkten, zu frutas y verduras, Obst und Gemüse aufgestapelt zu hohen Türmen, viel Auswahl, alles unverpackt, wenn eine frische Lieferung gekommen ist und nur ein paar schrumpelige und schimmelige Tomaten, wenn man nicht die Lieferung abpasst. An einem der ersten Tage wollen wir den Ort etwas kennenlernen, bis zum Biomarkt am anderen Ende des Örtchens sind es knapp zwanzig Minuten, ein kleiner Spaziergang. Auf dem Rückweg eine Polizeikontrolle, wir haben unsere Pässe parat, sie kaum zu verstehen, Mundschutz bis knapp unter die Augen, wahrscheinlich meistens gegen Kälte. Hin und her, ob wir überhaupt draußen sein dürfen, seit wann wir in Argentinien sind, seit wann in der Stadt. Wären wir direkt aus einem Schengenstaat gekommen, hätten wir uns nicht aus dem Haus bewegen dürfen, zum Glück können wir alles in unseren Pässen gut aufzeigen. Zu dritt stehen die Polizisten um uns, eine macht Fotos, zwei kontrollieren die Ausweise. Gut, wir hatten recht, einkaufen gehen dürfen wir. Aber nur alleine, ein Vermerk ist gemacht.

Die kommenden Wochen trauen wir uns nicht mehr zu zweit raus. Immer nur zum Einkaufen. Können nicht einschätzen, wie streng die Polizei ist, was sie aufgeschrieben haben, was genau wir dürfen. Nach kurzer Zeit auch nur noch mit Maske, Schal, irgendwas vor dem Gesicht. Das bisschen Wortschatz, das man sich angesammelt hat, verschwindet hinter den Tüchern, das Grinsen, was normalerweise als Verständigung reicht, fällt weg.

Die Straße am Hang

Alle zwei Wochen wird die Ausgangssperre um zwei weitere Wochen verlängert, weltweit immer mehr Fälle. Argentinien schlägt sich gut. Noch wissen wir nicht, wie gut. Wie gut im Vergleich zu Brasilien, Chile.
Wir finden einen Käseladen, der Besitzer spricht englisch, freut sich jedes Mal, wenn wir vorbei kommen. Und wir kommen oft. In Argentinien gibt es ein paar eigene Käsesorten. Italiener, die in Südamerika Pecorino, Mozzarella und Parmesan vermisst haben. Wir wollen möglichst alten, möglichst harten Käse und bekommen tatsächlich ein Stück, um die zehn Monate alt. Er zieht jedes Mal wenn wir kommen, ein Stück Käse aus der Theke, immer entschuldigend, so alt wie in Europa wird Käse hier nicht. Und wir können wieder richtig Brotzeit machen. Sogar mit Sauerteigbrot. Als klar ist, dass wir hier lange sein werden, legen wir eigene Kulturen aus schwer zu bekommendem Roggenmehl an.

Der Berg vor dem Fenster immer blasser

Jeden Morgen stehen wir später auf, die Sonne geht inzwischen erst um neun Uhr auf, unser Zimmer erreicht sie eigentlich nie. Nachmittags mal ein paar Strahlen, mit der Zeit von immer dickeren, grauen Wolken verschattet. Irgendwann machen wir die Heizung an und nicht mehr aus, um ein bisschen Wärme zu bekommen. Spätherbst.
Eingekuschelt in Decken lesen, spät frühstücken. Viel telefonieren, skypen, Kontakt haben. Ab und zu lange Einkaufstouren.
Die Zeit fließt und steht gleichzeitig. Wochen und Tage verschwimmen, ziehen sich ins Unendliche und sind im Rückblick nur ein Wimpernschlag.
Die Berge werden immer bunter. Goldenes rot und immer mehr leere Bäume, vom Apfelbaum fallen die letzten Früchte und die ersten Blätter. Jeden Tag ein Stück näher zum Winter.

Ich geh zum Supermarkt, will ein paar Vorräte aufstocken, die es im Minimarkt nicht gibt. Sojasoße und Senf. Eigentlich immer eine Schlange vor der Ladentür, diesmal nicht. Nur der Security-Mann, mit Desinfektionsmittel bewaffnet, steht wie jeden Tag im Eingang, zum Kundenzählen. Ich frage nach, in sicher nicht allzu perfektem Spanisch, ob ich rein kann. Nein, der Laden ist voll, ich soll warten. Eine Kundin kommt raus, ich will rein und werde zurückgehalten. Er bespricht sich mit einem Kassierer, soll man eine Deutsche reinlassen? Ich bin mit der Situation überfordert, habe meinen Pass dabei und könnte meine ganze Reise aufschlüsseln. Die Ausgangssperre ist schon seit mehreren Wochen, ich muss schon länger vor Ort sein. Irgendwann werde ich rein gewunken, laufe gesenkt und verwirrt durch die Gänge und unwohl zurück.

Immer beobachtet

Im Gemüseladen, der Korb voll frischen Kräutern, Spinat, Knoblauch und Chilis, an der Kasse kommt noch eine Ingwerknolle dazu. Der Blick verträumt nach draußen, überlege, was man sonst noch braucht, als ein Pferd vorbei rennt. Das hellbraune Tier galoppiert die Straße lang, kein Auto ist unterwegs. Wir gucken alle etwas verdutzt und brechen zusammen in Gelächter aus. Ein bisschen sozialer Kontakt.
Im anderen Gemüseladen immer wieder ein bisschen spanisch, ein bisschen Smalltalk und Geschichten über die Oma aus Deutschland.
Ab und zu alle der fünf Bioläden im kleinen Ort abklappern, harina de centeno, por pan alemán? Ab und zu werden wir fündig, dann kann der Sauerteig wieder gefüttert werden.

An der Straße alle paar Meter Müllkäfige angebracht und die hier in Masse lebenden Raubvögel auf der Suche nach Lebensmitteln. Schreien und pöbeln, hinterhältig angreifen und immer wieder ein Grund stehen zu bleiben uns umzuschauen. Und dann noch die arroganten, großen Vögel, die wie gezüchtet und gewollt durch die kleinen Gärten spazieren, die Straße überqueren und erwarten, dass man ihnen Platz macht. Die lang gebogenen Schnäbel im Boden, nach der Mahlzeit ein kurzer Flug auf eines der Hausdächer.

Wir sehen einen Eisvogel beim Spazieren gehen

Ab und zu wissen wir nicht weiter, die Ausgangssperre immer um zwei Wochen verlängert, Lockerungen nicht angekündigt. Immer wieder Hoffnung, dass wir jetzt vielleicht doch mal zu zweit raus dürfen oder sogar bis zum See spazieren und immer wenn der Präsident sonntags gegen 22:00 Uhr, ab und zu verspätet, seine Ansprache hält, also kurz nach dem Abendessen, Ernüchterung. Keine Lockerungen, wieder um zwei Wochen verlängert.

Der Schnee wandert immer tiefer

Wir führen viele Gespräche mit Freundïnnen und immer präsenter die Frage: Ab wann ist die Zeit hier verschwendete Zeit, ab wann besser in Deutschland genutzt? Wie sehr sollen wir an der Reise festhalten? Alles sträubt sich, das Gedankenspiel zu Ende zu bringen, zurück nach Deutschland zu fliegen und damit abzubrechen.
Die Idee kommt auf, den Reisestil zu ändern. Vielleicht mit einem Segelboot nach Europa? Wir schreiben viele Anfragen, die Transatlantik-Segelsaison schon vorbei und von Argentinien sowieso schwierig.

Und trotzdem müssen wir unseren Reisestil ändern. Selbst wenn wir uns wieder bewegen können – Trampen wird wahrscheinlich noch länger kaum möglich. Und dann haben wir Glück und plötzlich wieder einen Plan. Ein österreichisches Paar steckt hier auch schon länger im Ort fest, auf dem Campingplatz von unseren Gastgebern. Zu zweit. Mit ihrem Kombi.
Sie wollen nach Hause, wir kaufen das Auto.
Es dauert, Sondergenehmigungen und Papierkram, doch irgendwann ist es soweit und wir fahren das Auto vor das Haus, die beiden Österreicher mit dem Mietwagen nach Buenos Aires, am nächsten Tag geht der Flug nach Deutschland und wir haben einen neuen Reisestil. Zwar immer noch keine Bewegungsfreiheit, aber Hoffnung. Für uns eine Sicherheit, Schlafplatz und Transport, unabhängig und frei.

Ein Klischee

Die Bäume sind blätterleer. Überall kahle Stämme und Äste auf dem Hang. Unterm Apfelbaum verrotten braune Früchte. Schnee auf den Bergspitzen wandert immer weiter nach unten und jede Woche warnt der Wetterbericht vor Schnee. Bis jetzt hat er uns nicht erreicht, Regenfäden vor den Fenstern. Die Stadt in Graustufen und wir schauen weiter optimistisch jeden Tag in die Nachrichten. Neue Lockerungen in Sicht, die Läden langsam wieder offen und wir weiterhin mit Maske aber wieder zu zweit draußen. Lernen nochmal mehr von der Stadt kennen, sogar neue Menschen.

Und weiterhin optimistisch, dass wir uns bald in der Region bewegen können, bald Seen und Berge entdecken können, vielleicht Stück für Stück mehr in den Norden kommen. Vielleicht bald wieder Reisen.

Fast ist der Winter im Tal
Unsere Hier-Katze immer in der Nähe