
Wir stehen im 23. Stock am Fenster. Lichter und Leute auf dem Platz vor dem Haus und Hochhäuser bis ins Nichts. Ja, tatsächlich. In dieser Stadt gibt es keinen Horizont. Nirgendwo.

Am ersten Abend merken wir, die drei geplanten Tage sind zu wenig. Die Stadt fesselt uns von den ersten Stunden an. Wir fühlen uns bei unserem Host sofort zuhause. Uns wird die Wohnung gezeigt, die Katze stellt sich vor und wir bekommen einen Schlüssel in die Hand gedrückt. Es ist schnell klar, das wir ein sehr ähnliches Verhältnis zu Couchsurfing, zum Reisen haben.
Wir nutzen Couchsurfing vor allem für Städte. Klar, es ist kostenlos und passt somit besser in unser Reisebudget als Hotels zu nutzen. Der Hauptgrund ist aber, dass wir Menschen kennenlernen. Und mit und durch sie Städte anders und intensiver entdecken. Man bekommt die Möglichkeit für ein paar Tage in einen Einblick in ein Leben an diesen, für uns meist unbekannten, Ort zu bekommen.

Aus der Haustür
raus und in jeder Straße Bars. Nur ein bisschen rumspazieren und
vielleicht ein Bier trinken ist der Plan, als wir aus dem Haus gehen.
Nicht lange, was Ruhiges.
Doch es ist Freitag Abend, die
Straßen sind voll Menschen, die Stimmung ausgelassen und offen. Alle
Bars haben die Türen weit offen, eine Gruppe tanzender Menschen
drinnen, viele Leute an den Stühlen und Tischen vor der Tür. Aber
auch die Straßen sind voll kleiner Gruppen, alle haben Becher in der
Hand und teilen sich die Ein-Liter-Bierflaschen. Es nieselt, das tut
der Stimmung keinen Abbruch. Wenn der Regen stärker wird, klappen
ein paar Regenschirme auf, man verschwindet kurz zum Tanzen oder
ignoriert das Wetter, nutzt es vielleicht als Grund noch weiter
zusammen zu rutschen. Wir hören Englisch, selten in Brasilien, im
durchgemischten São Paulo normal. Viele sind tätowiert, tragen
Kleidung, die wild zusammengewürfelt aussieht, sicher aber mit
Konzept gewählt wurde und alle Farben sind in den Haaren vertreten.
Einen Style, den man auch so ab und zu bei kleinen Gruppen in
deutschen Unis findet, Typ Eli.

Wir finden einen freien Tisch, bestellen Bier und beobachten die Gruppen um uns. Manche trinken aus kleinen Plastikflaschen Cachaça, schmeckt nach Reinigungsmittel mit viel Zucker, macht aber offensichtlich betrunken. Die Gruppe tanzt ausgelassen, sitzt am Tisch und führt laut lachend Gespräche. Ab und zu, wie auf ein geheimes Kommando, wahrscheinlich aber eher auf eine Liedzeile, strecken alle ihre Hintern in die Luft und da es sehr eng ist, auch draußen, haben wir in fast alle Richtungen Blick auf schöne, wackelnd tanzende Frauen- und Männer-Hintern.
Ab und zu haben wir schon davor Gruppen so tanzen sehen, aber noch nie die Menge an Menschen, vielleicht wird so in Clubs in München getanzt, in unseren Stammkneipen und auf Goapartys nicht. Direkt neben uns sitzt eine Gruppe, die von fast jedem der vorbeilaufenden Verkäufer etwas kauft. Kleine Papierkegel voll Erdnüsse, die man davor probieren kann, frittierte Taschen, Lollies und anderes Zuckerzeug. Dazu eine Riesen-Portion Pommes mit viel Käse. Vielleicht liegt der Appetit an den Unmengen Gras, das sie rauchen. Auf vielen Tischen liegt offen das Bauzeug, man dreht sich, als ob es legal wäre und von allen möglichen Gruppen steigt der Grasgeruch auf. Nach ein paar Bier, wir haben unsere ruhige Planung schon längst vergessen, machen wir uns auch auf die Suche nach Essen, bekommen an einem Straßenstand Mais mit viel Butter und Salz und in einer lang geschnittenen, zum DJ-Pult immer dunkler und lauter werdenden Bar Kibe (ein frittiertes, faustgroßes Hackfleisch-Zwiebel-Bulgur-Bällchen, was eigentlich eher aus dem arabischen Raum kommt, aber überall in São Paulo zu finden ist). Hinter den ganzen tanzenden Menschen ist die Küche und weil auch direkt daneben (natürlich) Bier verkauft wird, bleiben wir da. Überraschenderweise sind die ganzen Menschen nicht zu viel, es ist eng, aber nicht unangenehm und laut, aber es regt mehr zum Tanzen an, als dass es stört. Und so verbringen wir unseren restlichen Abend zwischen tanzenden Körpern, werden selbst Teil der Masse und genießen, dass der Fokus hier auf dem Tanzen liegt, und nicht darauf, möglichst viele Leute anzufassen.
Am nächsten Morgen fragen wir unseren Host, ob wir noch länger bleiben können.

Tagsüber laufen wir viel durch die Stadt und auch wenn wir uns Stunden in eine Richtung bewegen, haben wir nicht wirklich das Gefühl, aus dem Zentrum raus zu kommen. Es gibt viele Straßen voll Cafés, voll Bars. Mit typisch brasilianischem Essen, aber auch kleine Restaurants mit Gerichten von der ganzen Welt. Wir besuchen einen wahnsinnig schönen Markt, essen da Ceviche und werden sofort in ein Gespräch verwickelt und wir besuchen den riesigen Markt, erinnert an die Hallen in Barcelona, wenn auch etwas ruhiger und doch andere Gerüche in der Luft liegen. Dann das eine Mal Touristenzentrum, Karnevalläden voll Stoffballen und Glitzer. Viel zu viele Menschen auf dem dünnen Schattenstreifen am Bürgersteig. Verkäuferïnnen von allen Seiten, Schmuck, Kokosnüsse und unbekannte Früchte. Hier ist uns São Paulo zu voll.

Warten vor dem MASP (Museu de Arte de São Paulo), mehrere Menschen laufen die lange Schlange der Wartenden ab, Dienstag ist der Eintritt kostenlos, um ihre Ware und Dienste zu verkaufen. Ein Mann bietet Paçoca an, eine köstliche Süßigkeit aus gemahlenen Erdnüssen, Zucker und Salz. Einer verkauft Zeitschriften, ein paar Menschen betteln und eine Frau läuft in weißem Kittel herum, misst Blutdruck und füllt ein Formular aus. Es fällt uns immer wieder in Brasilien auf, hier aber konzentriert. Verkäufer und Bettler werden nicht sofort ignoriert oder barsch abgewiesen, zumindest ist das nicht der Normalfall, wie man es sonst vielerorts mitbekommt. Es wird sich nicht etwas angewidert weggedreht, man fühlt sich nicht belästigt. Vielleicht ist das auch der Grund, warum nach einem No nicht weiter nach Geld gefragt wird, sondern man lachend verabschiedet wird. Irgendwie bedingt es sich gegenseitig, der Umgang ist aber wahnsinnig schön. Man hört sich zu, für uns sprachlich schwer, aber möglich, und behandelt sich auf Augenhöhe. Natürlich ist es nicht immer und überall so, aber wir bekommen oft diese Grundeinstellung mit. Vielleicht braucht man ja auch gerade Küchenschwämme, will ein paar Erdnüsse knabbern oder mal sein genaues Gewicht wissen. Vielleicht kann man wirklich helfen oder braucht selber etwas. Und ein Wasser in der Tasche schadet nicht.

Und trotzdem bekommen wir in São Paulo eine Armut mit, die anders ist, als wir sie in Marokko oder wir es in Rio erlebt haben. Neben vorbeispazierenden Studentïnnen, Anzugträgerïnnen, Familien und Touristïnnen leben Menschen auf der Straße, haben sich eingerichtet und man bekommt so privateste Szenen mit, die im Wohnraum und damit im Normalfall hinter verschlossenen Türen stattfinden.
Und die Stadt kämpft mit, zwischen diesen beiden Bildern. Den beiden Welten. Zum einen als wirtschaftliches Zentrum mit großem Finanzdistrikt, weltweit bedeutenden Kunstsammlungen und Kulturveranstaltungen. Als wichtiger Knoten- und Handelspunkt für ganz Brasilien und Anlaufstelle für junge Menschen zum Studieren und Leben in der riesigen Großstadt. Und zum anderen schockierend präsente Armut. Wir besuchen keine Favelas, bekommen in dem kurzen Zeitraum nur einen Bruchteils des Lebens, der Stadt mit und trotzdem brennen sich Bilder ein, die wir mitnehmen.
Prostitution ist offen an vielen Straßenecken zu sehen. Wenn man von den Hauptstraßen der Ausgehviertel in eine der Querstraßen geht und an den Ecken Frauengruppen in knappsten Kleidern und höchsten Schuhen sieht, einen Blick in einen Friseursalon wirft, der noch hell beleuchtet ist und zwei Frauen sich auf den Stühlen frisieren lassen, eine weitere vor der Tür raucht, bereits fertig gemacht für die Nacht.
Man den Menschen auf der Straße eine Drogensucht, einen Drogenmissbrauch ansieht. Vor allem viel Crack, das diese Menschen in Wesen verwandelt, die durch die Stadt geistern und in ihren eigenen Wahrnehmungen leben.
Wir laufen auf der Straße und stolpern dadurch immer wieder in Privaträume. Ein Mann, mit dem Rücken zu befahrenen Straße, mit dem Rücken zu uns, masturbiert. Ein Bild, was sich einbrennt.
Nebenstraßen, Wohnhäuser. Immer wieder kurze Straßenabschnitte, nach Pisse und Scheiße stinkend, die Haufen mit Klopapier an der Hauswand. Ohne Sichtschutz, mitten auf der offenen Straße.
Und irgendwie muss man damit umgehen. Nach ein paar Tagen springt es einen nicht mehr so an, diese Parallelwelt am selben Ort verbunden. Vielleicht stumpft man ab, vielleicht sind wir nach Marokko und Rio auch mehr an das Stadtbild gewöhnt, als wenn São Paulo erstes Reiseziel wäre. Und plötzlich entdecken wir Schönes in dem Bild, von dem man im ums saubere Stadtbild bemühten München sehr weit entfernt ist.
Wir sitzen in einem Restaurant, essen und ein wahrscheinlich obdachloser Mann kommt zur Tür rein, der Kellner sofort auf ihn zu. Sie sprechen miteinander, der Mann geht vor die Tür. Wir rätseln, was Inhalt des Wortwechsels war, als der Kellner mit einer mit Essen befüllten Box zurück kommt, es dem Mann in die Hand drückt, kein Geld nimmt und sich freundlich von ihm verabschiedet. Keine Verachtung, irgendwie muss man damit klar kommen.
Vielleicht einer der Gründe, warum viele nicht sofort abweisend auf die Bettler reagieren. Vielleicht ist das der Deal, wenn man in einer solchen Stadt lebt und nicht zum ärmsten Teil gehört. Dann kauft man vielleicht mal ein Wasser, ohne Durst zu haben und gibt den halb gerauchten Zigarettenstummel im Vorbeilaufen an einen am Boden sitzenden, alten Mann weiter. Ohne große Geste, ohne um Aufmerksamkeit heischend. Wir nur als Beobachter der Szene, weil wir direkt hinter der Frau laufen.

Auf dem Weg zu einer Band, die auch beim Karneval Ende Februar spielen wird. Farben des Viertels, und damit passende Farben für‘s Outfit sind gelb und lila. Dafür ist unser Gepäck nicht ausgestattet und unser Host spaziert mit zwei offensichtlichen Gringos durch die dämmrige, verregnete Stadt unter einer langen Brücke, eine Straße, die oftmals für Autos gesperrt ist. Aber bei dem Wetter laufen wir lieber drunter statt drauf.
Und nicht nur wir nutzen die trockenen Stellen. Auf dem Weg laufen wir immer wieder an kleinen Wohnlagern vorbei. Improvisierteste Unterschlüpfe, Pappkartons und kleine Lagerfeuer. Aber oft mit lachenden Gruppen davor. Hier wird ein ruhiger Abend genossen in dieser Welt. Eine kleine Hilfsgruppe ist unterwegs mit Essen, Süßigkeiten, Wasser und zusätzlichen Decken. Wir spazieren an vielen Schlafplätzen vorbei und biegen dann wieder in eine regennasse, offene Straße, um ins richtige Barrio zu kommen.

Und plötzlich hören wir rhythmische Trommelschläge, immer mehr und immer mehr Instrumente mischen sich unter. Es klingt, als ob das ganze Viertel auf der Straße ist, als wir aber um die letzte Ecke biegen, sehen wir, dass sich die Musik und Tanzenden alle um einen Pavillon verteilen, der Rest der Straße in nächtliche Ruhe getaucht ist. Stimmt natürlich nicht ganz, die Musik ist deutlich weiter zu hören, aber die Party ist auf einem kleinen Fleck. Ist ja auch nur zum Einstimmen auf das, was hier in einem Monat los sein wird.
Und auch wenn wir beide keine Freunde von betrunkenen Menschenmassen auf engem Raum sind, und das war eines der Bilder, die wir von Karneval vor Augen hatten, es ist anders. Ganz anders. Und in diese Stimmung verlieben wir uns. Hals über Kopf und unvergesslich.
Alle sind nass verregnet, die Tropfen hängen in der Luft.
Die Musik ist laut, rhythmisch, reißt uns sofort mit.
Ausgelassen und voll Energie. Aus den nassen Haaren fliegen Regen und Schweißtropfen auf alle von allen. Man tanzt für sich, zusammen, in Choreographie oder einfach so. Ab und zu eine Verschnaufpause, ein Schluck aus dem Flachmann, dann weiter.
Die Musikgruppe steht erst unter dem Pavillon, als der Regen schwach genug ist, kommen sie in die Mitte der Tanzenden. Die Frau, die dirigiert verbraucht mindestens genau so viel Energie wie die Tanzenden, wahrscheinlich auch die Musiker, aber sie springt vor der Gruppe, die recht lose um sie steht, reißt die Arme herum, immer mit breitem Grinsen im Gesicht. Es wird laut gesungen, auf manche Textstellen hin bilden sich Dreiergruppen, Schulter an Schulter, Arme umeinander und im Kreis hüpfen. Für sich im Kreis springen und irgendwann den Hintern rausstrecken und mit drei lauten Pau!-pau!-pau! drauf klatschen. Hände zum Dreieck in den Himmel.
Es geht um Sex. Es geht um Liebe. Es geht um den Kampf gegen Faschismus. Sich nicht unterdrücken lassen, weiter kämpfen. Nicht klein werden.
Karneval ist politisch. Es geht darum, da zu sein. Und das sind sie.
Motto dieses Jahr: Collective orgasm against fascisim!

Unser Host bietet uns an, bis Karneval Ende Februar bei ihm zu bleiben, eineinhalb Monate. Wir könnten in einem Kollektiv mitarbeiten, das Lebensmittel direkt vom Produzenten bezieht und in einem Laden diese komplett aufgeschlüsselt, Preis, Herstellungen und Herkunft, verkauft.
Wir spielen mit dem Gedanken, können uns nur schwer davon trennen, immer mehr Facetten der Stadt wollen wir kennen lernen. Wir hängen nochmal drei Tage dran. Bedenkzeit. Und reißen uns dann los.
