Zwei Tage, 1400 Kilometer. Von Pergamino bis Villa Pehuenia. Wir machen möglichst viel Strecke, haben Herzrasen, zu großem Teil überschneidet sich der Weg mit dem, den wir vor knapp zwei Jahren gefahren sind.
Die Hitze und Schwüle der letzten Wochen weicht einer klaren Luft, es ist kühler. Bergnähe.
Ab und zu halten wir an, erinnern uns, spazieren ein bisschen am Straßenrand, umgeben von den bei uns so mit Patagonien verknüpften, niedrigen, ockerfarbenen Büschen. Vor allem sind wir aber unterwegs.
Wir sind wieder an der Tankstelle in Zapala. Stimmt, hier stand unser Zelt. Hier hatten wir nach gut einer Woche das erste mal wieder Internet, in einer Woche, in der in Deutschland und der Welt sich so viel verändert hat. Da haben wir eine Sprachnachricht gehört, in der uns Freund*innen erzählt haben, dass sie im Sommer eher nicht nach Peru fliegen können, wir uns eher nicht sehen werden. Dass die Länder langsam zu machen, um kurz darauf alles in der Zeitung zu lesen. Steigende Zahlen, Reisewarnung und wir noch ein Stück weiter wollten. Dass trampen schwer war, dann San Martín de los Andes und geschlossene Grenzen. Wir probieren uns nicht zu sehr in Erinnerungen zu verlieren, fahren auch nicht direkt nach San Martín weiter, auch wenn es nur ein kleines Stück Strecke wäre.
Wir haben ja Zeit, sehen die Anden schon länger und wollen möglichst schnell in den Berg.
Villa Pehuenia, wir waren hier noch nicht, hatten uns das erste mal für einen anderen Weg entschieden und wären sonst wahrscheinlich hier festgesteckt. Das Dörfchen liegt auf 1163 m, und wir schleichen uns von hinten an, eine Schotterstraße an der chilenischen Grenze lang. Die Berggipfel, die wir sehen, sind keine argentinischen und wir fahren langsam zwischen riesigen Nadelbäumen, Andentannen. Ab und zu bleiben wir stehen, lassen Schafe oder Ziegen vorbei. Nur ab und zu überholt uns ein mitgenommener Pick-Up-Truck, die Straße ist kaum von Tourist*innen befahren. Die letzten zwei Tage haben wir wahnsinnig viele Wohnmobile gesehen, Sommerferien und langsam offene Grenzen.



Wir bekommen wieder Kraft, tauen auf, aus dem komischen Zustand der letzten Wochen und letzten zwei Tage. Die letzten Monate haben wir im flachen Buenos Aires verbracht, umgeben von Landwirtschaft, kein Wald, Fluss oder See. Und plötzlich sind wir hier, dreißig Grad weniger, kalter Wind im Gesicht, in dem Schneeflocken treiben, umgeben von hohen Bergen und Bäumen. Die schwüle Hitze sehr schnell nur eine Erinnerung an einen zeitlosen Zustand.
Ein paar vereinzelte Pferde, ganz selten mal eine Holzhütte. Stimmt, deshalb reisen wir. Ein Gefühl, das uns in den kommenden Wochen immer wieder durchfährt.
Die nächsten Nächte schlafen wir an Seen, warten die Regenfront, die uns von der Küste aus verfolgt und einholt, ab und springen in den folgenden Tagen bei Sonne in die tiefblauen, klaren Bergseen. Kommen runter und an.






Der Nationalpark Lanín erstreckt sich um den gleichnamigen Vulkan, hohe Wälder überziehen Hügel, immer wieder unterbrochen durch Seen, Flüsse und Wasserfälle, ein weit verzweigtes System.
Das Mietauto, mit dem wir unterwegs sind, fährt uns zuverlässig die langen, kurvigen und selten asphaltierten Straßen an den Anden entlang, über Schleichwege nach San Martín de los Andes. Der Ort ist wahnsinnig voll. Sommer- und Inlandstourismus, aber auch wieder Reisende aus Europa. Niederländisch, Französisch, Englisch um uns herum. Alles ist voll. In den Cafés und Bars sind alle Tische besetzt, die ganze Seepromenade voller Menschen mit Mate in der Hand, Tretboote und Stand-Up-Paddling. Wir bleiben nicht lange, sehen Freunde wieder, mit denen wir Kontakt gehalten haben, besuchen unseren Käselanden, unseren Kiosco und unsere Stammkneipe und haben non-stop das Bedürfnis, allen zu erzählen, wie verrückt das gerade für uns ist.
Mit Erica und Max verbringen wir einen langen Abend in der Rezeption vom Campingplatz, essen Picada, berichten einander, was bei ihnen und uns passiert ist, immer wieder kommt jemand rein, um ein Bier zu kaufen oder ein bisschen Feuerholz. Und wir sprechen die ganze Zeit spanisch.
Wir stellen das erste mal fest, wie viel Zeit vergangen ist. Es ist wirklich was passiert. Bei ihnen, auf dem Campingplatz, bei uns. Und unser Spanisch ist ein klares Zeichen. Es ist immer noch nicht gut, von David besser als von mir. Smalltalk geht problemlos, darüber hinaus wird es schwierig und sicher oft unschön und schwer verständlich. Aber wir bekommen es hin über die Wahl in Deutschland, Querdenker*innen, das Verhältnis zur Nationalflagge, Gendern zu sprechen oder das Schulsystem zu erklären. Und hier haben wir das erste mal wirklich einen vorher-nachher-Vergleich.
Vorher waren wir stolz, wenn wir nach dem Einkauf in einem der vielen kleinen Läden fast alles, was wir meinten, bekommen haben, ohne den Translator zu verwenden oder in der Dietética Roggenmehl erfragen konnten und ein auswendig gelerntes para pan de masa madre, für Sauerteigbrot, hinterherschieben konnten.
Am nächsten Tag verabschieden wir uns und fahren endlich weiter nach Süden. Einen Weg, den wir ein bisschen trotzig machen, bei diesem Anlauf werden wir endlich mehr von Patagonien sehen!



Der Kofferraum von dem kleinen Auto ist voll mit unseren Campingsachen, alles in die Kisten noch aus dem Kombi sortiert, hier haben sie nochmal Verwendung. Unsere Küche ist inzwischen wahnsinnig gut ausgestattet, immer mal wieder finden wir ein Gewürz in einem kleinen Laden, was in unserer Gewürzkiste landet, kochen abends auf der Gasflasche und bereiten heißes Wasser für Thermoskanne und den inzwischen fast täglichen Mate vor.
Es sind relativ viele Menschen unterwegs und die meiste Zeit können wir mindestens ein anderes Auto sehen, man lässt sich Platz, trotzdem freuen wir uns schon, nach Bariloche und El Bolsón wieder mehr für uns und mehr im weiten und auch leeren Patagonien.
Die Ruta de Siete Lagos, die Straße der sieben Seen, verbindet San Martín de los Andes und Bariloche mit, je nachdem wie man zählt, aber mehr als sieben Seen. Alles ist relativ nah beieinander, immer wieder kleine Dörfer und sehr vielen Campingplätzen. Mal große Wiesen, mit Strom, Tisch und Parrilla an jeder Parzelle, mal ein Teil vom Grundstück, wo verstreute Holzstämme Bänke sind und man sein Feuer irgendwo macht, wo man es für windgeschützt genug hält. Meistens schlafen wir auf Abwandlungen der zweiten Version. Und wenn die Bäder so improvisiert sind, dass selbst wir sie nicht verwenden, duschen wir bei einer der Tankstellen und fühlen uns wieder reisend.
Gerade auf den Campingplätzen, die sich nicht in der Nähe von Dörfern befinden, sind die Bäder meist selbstgebaute, kleine Räume, die Schläuche an der Wand befestigt, manchmal nur mit Draht und so windig, dass wir Angst haben, irgendwas zu berühren. Abends wird man dann gefragt, ob man warmes Wasser will und wenn ja, Feuerholz unter einen Wassertank geschichtet und angezündet.
Oft biegen wir von der asphaltierten Straße ab und fahren Umwege über kurvige und steile Sträßchen. Hier ist weniger los und meistens fängt alles ganz harmlos an und an dem Punkt, wo wir uns ärgern, die in diesem Teil gut ausgebaute Ruta 40 verlassen haben, sind wir schon so lange unterwegs, dass wir nicht mehr umdrehen. Dichte, hohe Wälder, die sich immer mal wieder ausdünnen, freier Blick auf groteske Felsformationen, die sich gefühlt der Physik strotzend nach oben strecken. Wald, das nächste mal den Blick auf einen See oder Fluss, wieder verschließt er sich vor uns und zeigt das nächste mal, dass wir uns die Steigung nicht eingebildet haben und uns mitten auf einer kurvigen Bergstraße befinden. Und immer wieder der Blick auf die blauen Anden neben uns.
Viel Strecke und meist meiden wir die Orte, kaufen maximal Lebensmittel, schlafen dann aber lieber auf Plätzen ohne Strom, dafür mit vielen Sternen.

Am Straßenrand machen Schilder ab und zu auf den Verkauf verschiedenster Dinge aufmerksam, mal Käse, torta frita y pan casero, Beeren und einmal auch ein Schild zu einer Single Malt Destillerie. Dort biegen wir sofort ab und haben ab da noch eine gute Flasche Whisky dabei.
Danach werden es weniger und weniger Menschen, wir sind vorbei an Bariloche und El Bolsón, inzwischen seit ein paar Wochen unterwegs und eingependelt. Mal Tage, an denen wir vor allem Strecke machen, mal ein paar Nächte an einem Ort, Wäsche waschen und rumspazieren.
Vereinzelt stehen kleine Baumgruppen beieinander, es ist immer noch grün aber nicht mehr so viele Seen. Die Hügel sind seichter, die Landschaft oft in pastelligen grün-blau Tönen.



Und plötzlich stellen wir fest, dass die Bäume ganz verschwunden sind und überhaupt alles anders aussieht. Irgendwann in den letzten paar hundert Kilometern muss es passiert sein, waren irgendwo in ein Gespräch, Musik oder Podcast vertieft oder haben die Gedanken einfach nur schweifen lassen.
Aber es sieht aus, wie für uns Patagonien aussieht. Nicht nach einer kitschig verklärten, und ja, auch wahnsinnig schönen, Version von alpenähnlichem Gebirge, sondern unfassbar, unbegreiflich weit.


Die Straße ist breit, oft nur eine festgefahrene Erdschicht, Geröll und Kies am Wegesrand, danach, bis zum Horizont, gelbes, braunes Gebüsch, kniehohe Gräser. Ganz selten ein windverknoteter, blätterloser Baum. Und wahnsinnig viele Guanacos. Die Tiere sehen sehr flauschig von weiter weg aus und recht zottelig, wenn man näher hinfährt. Alle paar hundert Meter stehen einzelne Tiere, kleine oder große Herden beisammen, mustern das herankommende Auto skeptisch und entscheiden sich dann meist zur Flucht. Die Flächen neben uns sind eingezäunt, riesige – mehrere zehn- bis hunderttausende Hektar Land – Campos, auf denen Schaf- oder Rinderherden gehalten werden, die aber nur sehr selten in Sichtweise grasen. Die größeren Guanacos springen über die Zäune, die Jungtiere kommen noch nicht drüber und bleiben nah am Zaun, beobachten uns skeptisch.



In den nächsten Tagen sehen wir immer wieder Kadaver in unterschiedlichsten Stufen des Zerfalls, ein fast komplett erkennbares Tier bis zu letzten, von Vögel blank gefressenen Rippen, die noch im Zaun hängen. Nicht alle schaffen den Sprung, ab und zu entscheidet sich ein Tier nicht Richtung Weite zu fliehen, sondern rennt auf die Straße. Wir fahren vorsichtig, nur tagsüber, und genießen es, fast alleine zu sein.
Ab und zu brechen die Ebenen neben uns weg, mal sind wir auf einer Anhöhe. Wenn wir Umwege fahren, passiert es, dass wir schmale, steinige Straßen steil bergauf und -ab fahren, wenn wir erhöht sind, türmen sich riesige, blau-weiße Bergmassive in der Ferne auf. Halten an kleinen Buchten an versteckten Flüssen in der sonst trockenen Landschaft und bauen unser Zelt, das Auto als Windschutz, auf. Abends schleichen Fuchsfamilien um das Auto, der Hund beobachtet angespannt das Treiben.


Der Wind ist immer stark, man sieht es im Auto nur nicht und spürt auch irgendwann nicht mehr den konstanten Widerstand. Warnschilder erinnern einen und irgendwann können wir an den leicht unterschiedlich schrägen Gräsern ablesen, wie windig es heute ist. Trotzdem sind wir eigentlich jedes mal überrascht, wenn wir das Auto an den Straßenrand stellen, um herum zu spazieren oder das Zelt aufbauen wollen, und es mit allen Möglichkeiten im Boden verankern. Nachts wendet der Wind manchmal und schlägt mit einer unfassbaren Wucht die Außenplane ans Zelt, alles biegt sich und wir sind jeden Morgen froh, dass das Zelt mit uns noch an der selben Stelle steht.
Meist kochen wir uns abends irgendwas zusammen, manchmal halten wir am Straßenrand an den sehr vereinzelten Truckerstops, meist in der Nähe von den sehr raren Tankstellen, die wir auch – vorsichtshalber – jedes mal nutzen. Eine riesige Schüssel Suppe aus dem noch viel riesigeren Topf wird auf den Tisch gestellt, Schöpflöffel und zwei tiefe Teller, noch bevor wir irgendwas bestellt haben. Hier gibt es das Menü. Immer. Für alle. Gut, dann auch für uns und wir dürfen nur das Getränk entscheiden, das wir uns aus einem der Kühlschränke oder der Weinregale nehmen sollen. Kellnerin, Köch*innen und Besucher*innen passen alle wahnsinnig gut in das Lokal, es ist fast komplett belegt, nur ein kleiner Tisch in der Ecke war noch frei, an dem wir jetzt vor einem Berg Essen sitzen, umgeben von Fotos der Gäste der letzten Jahrzehnte. Alle, die hier arbeiten, scheinen auch immer schon hier zu arbeiten, auf den Bildern sieht man fast das ganze Leben der Menschen. Musik, eine Parrilla hat noch letzte Fleischstücke des Mittagsmenüs über dem Feuer, wir sind kurz in einer Parallelwelt, bevor wir wieder für Stunden durch unser inzwischen schon heiß und innig geliebtes Patagonien fahren.


Auf unserer Liste an Orten, die wir unbedingt noch sehen wollen, Dinge, die wir noch tun wollen, steht nicht viel, aber, fett unterstrichen, Gletscher besuchen. Im Süden der Provinz Santa Cruz ist der riesige Parque Nacional Los Glaciares. Der Ort, El Calafate, ist wieder wahnsinnig voll. Tourismus und Reisende aus Argentinien und der Welt, auf den Campingplätzen Reisende mit Fahrrädern, Motorrädern, Vans. Menschen, die trampend unterwegs sind, die die ersten Kilometer einer geplanten, langen Reise machen. Wir haben die ersten Nächte Glück mit einem Campingplatz, bekommen die letzte Parzelle, der Himmel ist dafür wolkenverhangen, tiefgrau und immer wieder schüttet es herunter. Man sieht nur ab und zu, wenn der starke Wind die Wolkendecke aufreißt, die riesigen Bergmassive, die uns einkesseln.

Und dann, nach ein paar Tagen, klart es wieder auf, wir können auf dem Campingplatz nur nicht mehr bleiben. Wir verstehen uns aber gut mit der Betreiberin und bekommen die Handynummer von einem Nachbarn von ihr, mit großem Garten. Eigentlich ist der ganze Ort sehr herausgeputzt, ausgelegt für Tourismus mit Geld. Der Ort, an dem wir jetzt übernachten, spricht Menschen an, die nur ein bisschen Geld zum Übernachten ausgeben können. Alles ist unfassbar zusammengeschustert, aus alten Holzplanken, Paletten, Reifen. Plastikplanen und wahnsinnig viel Zeug. Wir stellen unser Zelt auf eine freie Fläche zwischen Schutt und Scherben, ein Steintrog mit verbrannten Müllresten neben uns.
Ein Pferd steht angebunden an einem kurzen Strick neben dem Klohäuschen, drei Wände und eine Kiste mit Loch das Plumpsklo, duschen dürfen wir bei der achtköpfigen Familie im Haus. Das Gebäude besteht aus drei Zimmern, die alle nacheinander aneinander gebaut wurden.
Das erste aus alten Ziegelsteinen, Fenster, offensichtlich als erstes und am geplantesten gebaut, ein Durchbruch, unverputzt, also im Endeffekt ein Loch in der Wand, führt zum nächsten Zimmer, Anbau. Graue Ziegel, unverputzt, Rohbau. In ein paar der Fensterlöcher ist Glas, andere vernagelt. Der Teil, der wahrscheinlich als letztes hinzugezimmert wurde, als Kinderzimmer fungiert, besteht nur noch aus Brettern, Wellblech und ist mit Tüchern verhangen.
Wenn man in das Haus geht, sitzen meist die Eltern und deren Eltern zusammen, kochen oder backen was, spielen Karten um die dank Inflation fast komplett wertfreien Münzen. Der flackernde Fernseher läuft, non-stop, wie bei so vielen Familien, die wir bisher kennengelernt haben. Es ist trotz des kühlen Windes immer ein bisschen schwül, moderig. Katzen sitzen und liegen auf an der Wand angelehnten Matratzen. Das Zimmer sicher auch Schlafraum. Kleiderberge liegen auf allen Flächen, Schränke gibt es kaum. Dank der Konstruktion führt das Badezimmerfenster in eines der Räume. Eine reihe Ziegelsteine auf dem Boden halbieren den Raum und bilden die Duschwanne, die Wände sind mit Fliesenscherben beklebt. Wasser kommt durch die windig an der Wand befestigten Schläuche. Das Haus ist sehr selbstgebaut, schon öfter haben wir so, gerade in Dörfern, bei Familien gewohnt, gezeltet, geduscht. Ein krasser Kontrast zu den Wohnungen in Buenos Aires, in Recoleta, wo morgens in den Nachbarwohnungen das Frühstück von Angestellten vorbereitet wird.
Insgesamt bleiben wir fünf Nächte auf diesem Campingplatz, bekommen im Dorf unsere dritte Impfung, sind seit langem das erste mal auf einem Konzert und besuchen endlich den Nationalpark.
Es ist unfassbar, unendlich beeindruckend.
Der Lago Argentino erstreckt sich mit seinen Armen durch das gesamte Gebiet, mit der etwa dreifachen Fläche des Bodensees der größte See in Argentinien. Und von einigen Punkten kann man Gletscher des zusammengenommen 2.600 km2 großen Eisfeldes sehen. An einem der Hänge, gegenüber vom Glaciar Perito Moreno, sind Stege und Balkone befestigt, man kann Runden spazieren und den Gletscher von unterschiedlichsten Sichtwinkeln beobachten. Und wir lauern für Stunden vor diesem Gebilde aus Eis.

Immerwährendes Knarzen, Krachen, Ächzen. Völlig gebannt und wartend, dass ein Stück herunterbricht. Vor den Augen flimmert das Massiv, zwischen vierzig und siebzig Meter hoch, und ab und zu, ganz selten, vielleicht einmal alle ein, zwei Stunden, bricht eine Ecke ab, der Gletscher kalbt.
Das andauernde Krachen wird lauter, und wenn man sich erst nach dem übertönenden Krachen umdreht, sieht man nur nur Wellen und darin treibende Eisstücke. Der Blick immer zur Seite, immer auf das Eis, spazieren wir stundenlang auf und ab. Bleiben stehen, wenn wir das Gefühl haben, dass das Krachen lauter wird, und schauen, wo sich die Risse vertiefen, welche von den Spitzen herunterfallen könnte und glauben bei fast jeder der Kanten, dass sie die nächste ist.



Ab und zu hört man das Brechen und den Aufprall im Wasser aus dem inneren dieser eigentlich so starr wirkenden Masse und je mehr Zeit wir davor verbringen, desto mehr schleicht sich das Gefühl ein, einem in allem überlegenen Lebewesen, einem hoffentlich gutgesinntem Ungeheuer gegenüber zu stehen. Von Angesicht zu Angesicht, aufeinander lauernd.
Es ist sehr wenig los und wir können uns, gerade bei den anstrengenderen Routen, immer wieder Beobachtungsplätze suchen, wo wir uns einreden, alleine auf der Welt zu sein. Unser Platz ist gut, relativ hoch, und wir verlieren uns in Gedanken, die steile Wand beobachtend. Unnatürlich anmutendes Blau strahlt durch die oberen Kanten, alles erinnert an Märchen und Fantasiewelten aus Kindheitsgeschichten. Da muss also der Schatz versteckt sein, das Monster lauern, ein Troll gerettet werden. Das Krachen wird lauter und mit einem Mal löst sich ein riesiges Stück. Die Höhe der gesamten Wand groß, es bricht mit einem ohrenbetäubenden Lärm in den See, Wellen schlagen um sich, donnern, als das Donnern des Aufpralls, des Untertauchens bei uns ankommt. Ein paar Sekunden später wieder das andauernde Grollen, Wellen und ein Eisberg erinnern an den Fels und unsere Herzen rasen. Aufgeregt, auf das fehlende Stück, auf das untergegangene Stück, auf alles deutend. Eins der beeindruckendsten Erlebnisse der bisherigen Reise, sogar in Konkurrenz mit der Sonnenfinsternis.






Für den nächsten Tag machen wir eine Bootstour, stehen die ganze Zeit im eisigen Wind und besuchen weitere Arme des Eisfeldes, steigen aus und spazieren durch einen der Wälder, begreifen die Größe der einzelnen Ausläufer von unserer, jetzt so niedrigen Perspektive noch mehr, sind immer noch tiefenentspannt und selig vom Vortag, während alle anderen Gäste an Bord lauernd starren.






Einen Ort weiter, El Chaltén. Alles ist voller Outdoortourismus, unsere Ausrüstung maximal Mittelmaß, unser Zeltmodell sehen wir hier das erste mal in Argentinien und gleich dreimal auf unserem Campingplatz. Hier kommt man zum Wandern hin, das Bergmassiv Fitz Roy liegt wachend neben dem Dörfchen, im selben Nationalpark, ein 130 Kilometer entfernter Zugang. Die einprägsame Silhouette des Berges kennt man, es schmückt Biersorten, Kleidungsmarken, alle möglichen Logos. Die Wanderung steht auf unserer Liste, eine tagesfüllende Beschäftigung. Wir suchen eine Betreuung für den Hund und lassen ihn am Ende bei der Kellnerin der ersten Bar, in der wir waren.

Der Sendero al Fitz Roy fängt nett an, man spaziert durch den Wald, über Wurzeln und Steine, hat ab und zu Sicht auf den Berg und die kleinen Gletscher nebenan. Hoch und runter den schmalen Erdweg hintereinander her, ab und zu eine Trinkpause. Und dann wird es eklig. Gut, wir wurden vorab gewarnt, von Freund*innen und Schildern, der letzte Teil ist nicht mehr moderate, sondern eine deutlich höhere Stufe, dificultad alta. Nur mit guter Kondition und gutem Schuhwerk.
Wir sind sehr früh los, und je später, desto mehr freuen wir uns über diese Entscheidung. Man läuft im Endeffekt gerade den Berg hoch. 400 Meter Steigung auf einem Kilometer. Das ist steil. Und wir schleppen uns irgendwann mehr als dass wir wandern. Ein schmaler Pfad führt nach dem langen Geröllfeld durch Steine und Felsen, bei denen man bei jedem Schritt Angst hat in die Tiefe zu stürzen. Ab und zu werden wir von deutlich fitteren Menschen überholt, eine Handvoll kommt uns auf ihrem Rückweg entgegen und wir sind froh, dieses Ausweichmanöver selten machen zu müssen. Die Strecke ist gemein, wenn man das Gefühl hat, die eigentlich letzte Kuppe erreicht zu haben, sieht man die nächste – und dann zum Glück auch wirklich letzte – und meine gerade erreichte, belohnende Vorfreude wird je unterbunden. Trotzig das letzte Stück, und dann sitzen wir, atemlos, vor dem Berg und starren ihn an. Nichts bewegt sich, nichts rumort, trotzdem ein beeindruckender Anblick, in dem wir uns verlieren.





Auf dem Rückweg kommen uns fast nicht endende Menschenschlangen entgegen, mühen sich bei Mittagshitze nach oben und wir sind froh, nur ausweichen zu müssen und nicht Teil davon zu sein. Auch wenn die Ausweichmanöver anstrengend sind, wir haben es schon geschafft.
Am späten Nachmittag sind wir wieder zurück im Ort, holen einen vollgefressenen, zufriedenen Hund aus der Bar und warten auf den Muskelkater, der den nächsten Tag bestimmt.


Nur noch ein paar hundert Kilometer und wir sind am südlichsten Punkt, den wir in Argentinien erreichen können. Die Provinz Tierra del Fuego, Feuerland, mit Ushuaia als ‚südlichste‘ Stadt ist durch chilenisches Festland getrennt, wir können zwar Argentinien verlassen, müssen dabei aber eine Gebühr zahlen und können nicht direkt wieder einreisen, weil unser 90-Tage-Visum jetzt doch schon relativ weit überzogen ist. Abgesehen davon darf das Mietauto nicht das Land verlassen, und da dies die einzige Möglichkeit ist, in die südlichste Provinz zu kommen, fahren wir, nur wenige hundert Meter von der Grenze nach Chile entfernt, wieder an die Küste, nach Río Gallegos.

Die nächsten Tage machen wir jeden Tag ein bisschen Strecke, essen abends oft frischen Fisch und Meeresfrüchte, spazieren die schroffen Küsten entlang und campen in möglichst windgeschützten Buchten.
Eine Nacht, hinter uns die hohe Felswand, sternenklarer Himmel. Kopf in den Nacken, der Blick verloren in den scheinbar immer mehr werdenden Lichtern, eine Flasche Wein. Plötzlich spannt der Hund an, wird aufmerksam, nervös, will losrennen, nach ein bisschen Leuchten mit der Taschenlampe finden wir die Ursache, ein Stinktier streift umher, wahrscheinlich auf Nahrungssuche. Wir wollen es nicht zu nah am Zelt haben, trauen uns aber auch nicht viel, um das Tier zu verscheuchen. Auf dem Campo haben wir schon öfter Stinktier gerochen, durchdringend süß, irgendwo zwischen abgestandenem Affenhaus im Zoo und Rapsfeld, schneidend intensiv und schwer, löst bei mir sehr schnell einen Würgereiz aus. Das wollen wir ungern riskieren. Lächerlich unaufdringliche Drohgebärden unsererseits, mit lautem Geräuschen, lassen das Tier irgendwann wenden und zurück trotten. Am nächsten Morgen schleicht das schockierend niedliche Tier nochmal um uns herum.




Hier gibt es Pinguine. Tagesausflug in ein Naturschutzgebiet, und man läuft auf Stegen vor der Küste. Im Halbschatten der Bodengitter dösen Pinguinjunge. Es riecht nach altem Fisch. Die Jungtiere strecken ihre Brust gen Sonne, geschlossene Augen, blinzelnd, den Schnabel in den Himmel, der Körper möglichst lang gestreckt. Teilweise sehen sie ein bisschen verlottert aus, mit den noch an manchen Körpern klebenden Federflaumresten, und, natürlich, trotzdem wahnsinnig niedlich. Und dann muss eines der Tiere niesen und wir klatschen vor Begeisterung fast in die Hände. Auch hier sind wir fast alleine, auch hier verbringen wir Stunden, sitzen auf den löchrigen Stegen und schauen uns die Tiere aus wenigen Zentimeter Entfernung an, was von den Pinguinen ungerührt hingenommen wird. Mal watschelt eines der älteren stolzierend, geschäftig durch das Gelände, verschwindet im hohen Gras, der Kopf taucht ab und zu auf. Gürteltiere rollen unter Büschen kleine Steine umher, auf Nahrungssuche oder am aufräumen. Guanacoherden beobachten uns wachsam. Maras dösen in der Sonne, Tiere, die wie eine Mischung aus Hase, Reh und Meerschweinchen aussehen.






Bahía Blanca, mal wieder. Ein Knotenpunkt, an dem man nicht wirklich vorbei kommt, wenn man aus Patagonien wieder raus, weiter in den Norden fährt. Wir haben das Auto noch ein paar Wochen gemietet und entscheiden uns, noch eine der nördlichsten Ecken Argentiniens zu besuchen, die Provinzen Corrientes und Misiones, die sich noch zwischen Paraguay und Brasilien erstrecken, im Dreiländereck die Wasserfälle Iguazú.
Innerhalb eines Tages fahren wir an Buenos Aires vorbei, wieder die gewohnte Landwirtschaft um uns herum, das Meer grau-braun, alles flach. Die Klimaanlage im Auto ist fast durchgängig an und als wir abends an einem der Flussufer des Río Paranácito ankommen, das Auto abstellen, schlägt uns eine schwere Feuchtigkeit ins Gesicht. Wieder Flashbacks, diesmal zurück nach Brasilien, zu tropischen Temperaturen. Die Luft surrt, Zikaden machen ihr durchdringendes, knarzendes Geräusch, Menschen angeln am Fluss und wir werden von Moskitos umlagert. Ein schnelles Abendessen und wir schälen uns am nächsten Tag früh aus dem beschlagenen Zelt, packen alles in morgendlichem Flussnebel zusammen und fahren weiter. Kaufen am Straßenrand Mango und Ananas, die so süß und reif sind, dass wir sie in kürzester Zeit essen, auseinander zupfen und den klebrigen Saft von unseren Fingern lecken. Frühstück, wie vor mehr als zwei Jahren. Alles erinnert hier an Brasilien, wir verknüpfen so eine Landschaft nicht mit Argentinien. Die Grenze verläuft zeitweise nur zwei Kilometer neben uns, immer wieder Polizeikontrollen, meistens werden wir durchgewunken, ab und zu die Fahrzeugpapiere kontrolliert.

In den letzten Tagen und Wochen gab es hunderttausende Hektar weite Waldbrände, wir fahren für Stunden an den erst seit ein paar Tagen erloschenen Überresten vorbei. Gespenstisch stehen die verkohlten Baumstämme in Reih und Glied neben der Straße, Forstwirtschaft. Schwarze Weideflächen, aus denen schon wieder erste grüne Halme emporkommen, die direkt von den Rindern weggefressen werden.
Noch ein weiterer Tag und wir kommen abends in Iguazú an, wieder auf einem Campingplatz. Um uns hohe Bäume, Vogelgezwitscher, und alles durchdringende Schwüle. Das Zelt steht ohne die Außenplane, nur das Innenzelt mit Fliegennetz. Trotzdem wachen wir immer wieder durchgeschwitzt auf.
Einen Tag spazieren wir durch den Nationalpark, kleinere Wasserfälle, Dschungel, Vögel. Und dann gibt es noch den Garganta del Diablo, den Teufelsschlund. Ein kleiner schmaler Zug fährt uns vor, ein gerader, langer Steg über einen ruhigen See. Fische und Wasserschildkröten, langbeinige und -halsige Vögel stehen am Ufer oder auf den großen, runden Steinen, die durch die Wasseroberfläche brechen. Ein Tösen in der Ferne, immer lauter, uns kommen komplett nasse Menschen entgegen, erst denken wir, dass sie vollkommen durchgeschwitzt sind, immer näher, lauter. Der Wasserfall ist atemberaubend. Unfassbare, unbändige Mengen stürzen sich in die Tiefe, wahnsinnig schnell und viel. Mit jeder Minute wundern wir uns mehr, dass es nicht aufhört, dass da immer noch Wasser ist, was in dieser ohrenbetäubenden Lautstärke in die Tiefe stützen kann. Wir stehen da, und starren und staunen. Vergessen die Zeit, sind durchgenässt, durch den andauernden nebelgleichen Sprühregen. Man sieht nicht den Punkt, wo das Wasser in den unteren Fluss auftrifft, man blickt in ein weißes, aufschäumendes Nichts, in dem das stürzende Wasser verschwindet. Irgendwann reißen wir uns los, zurück zum Zug, zurück in den Ort, ein paar Tage noch durch Corrientes mit andauerndem Platzregen. Wir können die Feuchtgebiete nicht wirklich besuchen, die Straßen sind aufgeweicht und sehen nur vereinzelt ein paar Tiere am Straßenrand stehen, die dort heimisch sind. Zum Zelten ist es zu nass, für ein paar Nächte mieten wir ein Apartment, das erste mal nach zweieinhalb Monaten wieder in einem Bett, und machen uns auf den Weg zurück nach Pergamino, müssen das Auto bald wieder abgeben.




