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Giselle

Eine der Mütter mit einer großen Horde Kinder

Jeden Tag wird Giselle dicker, jeden Tag bezweifeln wir, dass ihr Bauch noch weiter wachsen kann, ohne den Boden zu berühren. Wir sehen sie jeden Tag, eine gutmütige, ruhige Sau. Beäugt uns kritisch, wenn wir in ihrem Gehege bauen. Wir auch immer mit einem Auge auf ihr. Ab und zu eine der wilden Rucolapflanzen zur Bestechung. Wir verstehen uns gut, sie ist hochschwanger.

Morgens nach dem Füttern dann die Nachricht, sie hat sich bereit gelegt, in ihr vorbereitetes Nest, es ist soweit. Später am Vormittag schauen wir leise rüber, noch kein Ferkel zu sehen, aber vielleicht auch nur in den Bambusblättern vergraben, vielleicht so eng an die Sau gekuschelt, dass es sich vor uns versteckt. Um die Mutter nicht nervös zu machen, wieder zurück zum Haus. Vor dem Mittagessen noch einmal rüber und zwölf kleinste Ferkel drücken und schubsen sich unbeholfen um die Zitzen. Mit dem Kopf mit ganzer, schwacher Kraft rein, ab und zu wehleidig quieken, wenn sich ein Geschwisterchen den eigenen Platz erstreitet.
Giselle liegt erschöpft in ihrer Mulde. Nah an der Rotlichtlampe, die wir ein paar Tage zuvor montiert hatten, um die Neugeborenen von den nächtlichen Minustemperaturen zu schützen. Eine von vielen Ideen, damit sie nicht erfrieren.

Es ist Winter in der Wüste um San Rafael in Mendoza. Seit einem Monat sind wir hier, helfen mit, arbeiten Stück für Stück Projekte ab, auf der niemals endenden Liste an Dingen, die auf der Finca, dem Hof, getan werden müssen, sollen, können. Niemals setzen wir uns das utopische Ziel, sie abarbeiten zu können. Wieder draußen, etwas tun. Sich bewegen.
Die Luft ist trocken, unsere Haare, unsere Hände und Gesichter trocknen aus. Beim Lachen bluten die Lippen.
Mit violett rosarotem Sonnenaufgang zum Haus, Kaffee trinken, Zeitung lesen, Geht es den Tieren gut? Irgendwann ist die Sonne am Haus angekommen, der morgendliche Frost weicht und die nächtlichen Minustemperaturen liegen immer weiter zurück. Halb zehn, wir können anfangen.
Wir sind viel bei den Gehegen, ein paar Minuten vom Haus entfernt. Nach zwei Wochen kennen wir die Namen aller Schweine. Zehn Mütter und zwei Männchen, die Tiere, die länger bleiben und einen Namen bekommen. Die Ferkel werden maximal ein halbes Jahr alt, auf dem Hof selbst wird nicht geschlachtet, die Tiere lebend verkauft.

Annäherungen

Direkt nach unserer Ankunft hat Pinky geworfen, sechs von sieben überleben, werden schnell immer neugieriger, büchsen aus und finden ihren Weg aus dem Muttergehege, können so Stück für Stück und immer mehr vom Gelände erkunden. Anfangs verstecken sie sich noch hinter den Heuballen, rennen weg, sobald sie uns kommen sehen. Nach ein paar Tagen haben sie sich an uns gewöhnt, kurz darauf uns als Unterhaltung entdeckt. Sie rennen zwischen unseren Füßen herum, begutachten die Werkzeuge und knabbern, erst niedlich, später schmerzvoll, an unseren Fingern. Schnell erkennt man die unterschiedlichen Charaktere und lernt die einzelnen Tiere besser kennen. Es sterben deutlich mehr Ferkel als überleben. Oft sind es die nächtlichen Minustemperaturen, mal sind die Mütter zu unbeholfen.

Nach vier Tagen sind zehn von Giselles Wurf tot.

Ein pinkes und ein schwarz geflecktes sind übrig. Halb geschlossene Augen, dünn und klein wie am ersten Tag stehen sie zittrig in den sonnenbefleckten Sandmulden. Normalerweise füllt sich die faltige Haut der Neugeborenen in den ersten Tagen aus, die Tiere fangen an zu klettern, zu spielen, hier nicht. Es ist klar, die nächste Nacht werden sie nicht überleben. Zu schwach und unbeholfen. Eine Spontanentscheidung, ich hole eine Kiste, ein paar alte Handtücher rein und unsere Gastgeberin setzt die beiden Rattengroßen Tiere in die Box. Die Mutter nimmt kaum Notiz, abgelenkt durch Rucola. Sie kann die Kleinen nicht versorgen, sie gibt keine Milch. Und eine Mutter, die keine Milch gibt ist, auf einem Nutztierhof unproduktiv. Mit dreieinhalb Jahren zu alt. Beim Abendessen wird entschieden, sie zu verkaufen.
Ich habe versprochen, die beiden Ferkel zu füttern. Schon einmal haben sie es auf dem Hof gemacht, auch da haben Reisende geholfen. Und eigentlich wurde beschlossen, es nie wieder zu versuchen. Unser Ziel ist es, die Kleinen durchzubringen, bis die nächste Sau wirft, es kann nur noch ein paar Tage dauern, maximal eine Woche, dann wollen wir die Geretteten dazu schmuggeln. Hoffen, dass sie akzeptiert werden. Ein Experiment.

Der große Kamin in der Küche brennt fast durchgehend, in der Kiste liegen die beiden Tiere zitternd, immer kalt, aneinander gekuschelt. Eine Wärmflasche unter den alten Handtüchern, Wärme von allen Seiten. Milchpulver mit Ei und etwas Zucker angerührt, nach einer Technik suchen, dass sie trinken. Am nächsten Morgen bin ich in der Küche, mache das Feuer wieder an, die erste Nacht haben sie überlebt. Jeden Tag wache ich mit dem ersten Gedanken bei den Kleinen auf, gehe in die Küche und versuche, keine emotionale Bindung aufzubauen. Drei bis vier Mal die Tiere aus der Box nehmen, an den Körper pressen, die Flasche geben. Und auch wenn es immer besser geht, es dauert. Jedes Mal Füttern ein bis zwei Stunden. Und jederzeit können sie sterben. Ich freue mich, wenn sie stärker werden, damit aber auch immer lauter, fordernder. Ferkel können so unfassbar laut schreien. Das pinke Männchen stellt sich klüger an beim Füttern, hat mehr Energie, die schwarz gefleckte braucht mehr Zeit, kann ab und zu nicht mal auf eigenen Beinen stehen. Füttern kommt zu der Arbeit draußen dazu, der Tag durchstrukturiert, ich bin k.o.

Jeden Tag rechnen wir damit, warten darauf, dass Fea endlich wirft, dass ich sie endlich weggeben kann.
Die Tage vergehen in komischem Nebel zwischen Küchenboden und der immer windigen Sandlandschaft draußen. Wir arbeiten gerade an einem Sonnenschutz für die Schweine, temperaturempfindliche Tiere. Und hier im Winter nachts mal minus zwanzig, im Sommer in der Sonne über fünfzig Grad. Für jede Situation muss man ausgerüstet sein.

Und dann ist es soweit, eines der Mädchen kommt angerannt. Fea wirft.

Normalerweise kann man nicht zuschauen, die Mütter sind zu sehr gestresst von der Anwesenheit von Menschen oder werfen in der Nacht. Diesmal ist es möglich zuzuschauen, Fea ist ruhig und lieb, grunzt, wenn man zu nahe kommt, erlaubt aber Zaungäste. Die Familie hat Schweine seit vier Jahren, auch für sie das erste Mal, dass sie von Anfang an dabei sein können. Die Sau liegt auf der Seite in ihrer Mulde aus warmen Bambusblättern. Alle fünfzehn Minuten kommt ein Ferkel, ein blutiger Sack kommt nach anstrengendem Zucken aus der Mutter und ein rattengroßes, schmieriges Ferkel macht erste Stehversuche. Höchste Priorität haben die Zitzen der Mutter, die Nabelschnur verbindet noch Mutter und Kind, das neu geborene Kleine mit stupsenden, wackeligen Bewegungen auf der Suche nach Nahrung. Sobald das Kleinsttier den mütterlichen Körper ertastet hat, saugt und nuckelt es an allem, was es vor die Schnauze bekommt, in der Hoffnung auf erste Tropfen Milch. Fea, immer noch unter ständigen Krämpfen und Zuckungen auf der Seite, Lockrufe, damit ihre Kleinen nah bei ihr bleiben. Ich gehe zur Küche und komme mit den beiden zwei Wochen alten Tieren zurück, keine Namen, keine emotionale Bindung. Vielleicht, fast keine.

Feas Wurf

Beide kaum größer, kaum kräftiger, vielleicht sogar schwächer, als Feas paar Minuten alte Neugeborenen. Wir reiben sie mit blutigem Schleim der Mutter, klebrigen Resten der anderen Ferkel ein. Mit angehaltenem Atem warten wir, rechnen mit verschiedensten Reaktionen. Haben Angst, dass sie mit einem Hieb der Schnauze oder einem kräftigen Biss die Kuckuckskinder vertreiben wird, doch nichts geschieht. Statt drei schwarzen, gefleckten und rosa Jungen nun fünf und auch die Ferkel sind noch nicht zu verwöhnt von Flaschenmilch, stürzen sich gierig, stupsend, kletternd auf die Zitzen. Wir gehen zurück zur Arbeit, schauen auf dem Rückweg noch einmal vorbei und acht Ferkel dösen auf Bambus an Fea gekuschelt ein. Mütterliche Körperwärme gegen die eisige Nacht.

Zwei überleben die Nacht, sechs tote Tiere kommen zu der großen Tonne und werden verbrannt. Den Hunden kann man sie nicht geben, sie sollen nicht auf den Geschmack kommen. Jetzt, letztendlich, hat keine von Giselles zwölf überlebt.
Die Woche vor dem Kamin, die Milch aus der Flasche, nur eine einwöchige Lebensverlängerung.

Giselle hat sich inzwischen mit ein paar anderen Müttern im Auslauf eingelebt. Sie suhlen sich jeden Tag im Schlamm, streiten und keifen um das Futter. Eine klare Hierarchie, sie weit oben in der Liste mit ihren zweihundert Kilo ein großes Tier. Schlammverschmiert mit ihren fetten Bäuchen zur Sonne gewandt, immer beobachtende Augen auf unsere Arbeit. Ein zustimmendes Grunzen. Vielleicht machen sie sich auch lustig über uns.
Ein paar Damen, die ihre Lebenszeit damit verbringen, über Nachbars Zaun zu luren und sich bei regelmäßigen Rommée-Runden und selbstgebackenen Keksen – eigentlich eine Backmischung, aber das muss ja wirklich niemand wissen – die Mäuler über nicht perfekt gemähten Rasen und unzureichend gestutzte Büsche zerreißen. Bilder im Kopf, lustige Geschöpfe.
Wahrscheinlich sind wir ihnen egal und wir vermenschlichen sie.

Giselles Tage sind gezählt, ein befreundeter Farmer wird sie kaufen. Am nächsten Wochenende kommt sie zu Carlos. Er schlachtet auf seinem Hof und wir werden dabei sein.

Ich stehe auf der Ladefläche des Pick-Ups, der mit achtzig den sandhügeligen Feldweg entlang rast, bei dem wir uns nicht mehr als dreißig km/h trauen. Staub in den Augen, eine Hand auf den Deckel des Käfigs, in den Giselle gelockt wurde. Raus aus dem Gehege und über eine Rampe in den Vergitterten Metallkasten aufs Auto. Ein paar Maiskolben zur Beruhigung und ich mit der Tochter als Ladungssicherung. Zum Glück geht die Fahrt nur ein paar Minuten, Carlos Finca fast das Nachbargrundstück. Nur kurz fahren wir die befestigte Straße lang, das Auto wird noch etwas beschleunigt, um dann schon wieder vor den selbstgemalten Schildern Kiosco zu halten. Mit Bier, süßen Teilchen, Käse und Schinken wird geworben. Das selbe Angebot in den hunderten, vollgestopften Läden, die ohne Genehmigung, wie fast alles hier, eröffnet werden. Ein Zimmer zwischen Eingangstür und Küche, ein paar Regale und ein Grundstock an Ware, der den eigenen Limo- und Bierkonsum finanzieren soll.

Carlos lebt mit seiner Frau und sieben Kindern auf dem Hof, betreibt den Kiosco und die Farm, schlachtet, offiziell natürlich nur für den Eigenbedarf, mithilfe der ganzen Familie.
Der Hof ist zusammengeschustert. Riesige Plastikplanen hängen von Meterhohen Pfosten, eigentlich Halterungen für die Schutznetze für die sommerlichen Hagelstürme, die jedes Jahr große Teile der Ernte kaputt machen können, bilden eine andauernde Geräuschkulisse. Eine abgemagerte Kuh steht mit eng um den Hals gebundenem Seil auf einem kleinen Fleck Gras und probiert sich von Zeit zu Zeit an einem erstickten Schrei.
Ein paar Hunde schauen aufgeschreckt von ihrem Berg Innereien zu uns und schlingen weiter, beäugen uns immer wieder kritisch.
Verschiedenstes Geflügel rennt herum. Enten, Gänse, Hühner und Truthähne. Wahrscheinlich noch mehr. Schweine, Schafe und Ziegen, verteilt auf dem ganzen Gelände in kleinen Gruppen.
Der ganze Hof könnte ohne irgendeine Änderung als Kulisse für einen postapokalyptischen Film genutzt werden. Die Ställe, Unterstände für die Tieren aus alten Reifen, nicht zuortbaren Gittern und Netzen, alten Autoteilen, Plastikplanen und wild zusammengenagelten Hölzern. Voll Lücken, die wahrscheinlich seit Jahren immer wieder provisorisch verschlossen werden, um sich in der direkt nächsten Sekunde an gleicher, leicht versetzter oder allen Stellen wieder aufzutun. Nach keinem erkennbaren Muster sind manche Tiere in den kleinen Käfigen, andere irgendwo. Ausgebrochen oder noch nie eingesperrt.

Ein kleiner Verschlag, Paletten, Plastikfolie und enger Maschendraht wird geöffnet, drei Ferkel rennen raus und Giselle wird von der Ladefläche über eine dünne Rampe in die nun freie Unterbringung bugsiert, eine Hand voll Mais in einem halben, ehemaligen Ölkanister und Stöcke helfen. Das Schwein sieht absurd groß in der neuen, engen Umgebung aus.

Ein letzter Zwischenstop für Giselle

Mit jedem Windstoß schwillt der Geräuschpegel mehr und mehr an. Wir gehen ein paar Schritte über das Gelände, probieren anzukommen.
Das schlauchförmige Haus und ein kleiner Hang verdecken die Sicht zur Straße, die Ställe um eine sandig festgetretene Freifläche herum, dahinter die Weinfelder. Nah am Haus auf dem Hof brennt ein Lagerfeuer, es riecht nach verbranntem beschichtetem Holz und ein riesiger, komplett rußschwarzer Topf wird davon beheizt. Wahrscheinlich hundert Liter Wasser sollen zum Kochen gebracht werden, man wird es später zum Schlachten brauchen. Davor ein kniehoher Tisch, eine massive Holzplatte. Spuren der letzten Schlachtungen. Davor, drei Meter hoch ein simples Holztor aus drei Pfosten. Der älteste Sohn hängt die schwere Metallkette in die Mitte, eine Flaschenzugkonstruktion.

Morbides Bild, ein Galgen in dieser postapokalyptischen Welt.

Ein paar Stunden später geht es los, davor war es zu windig, das Wasser ist nicht heiß geworden.
Wir stehen neben dem Tisch, der Schlachtbank. Carlos und seine Kinder routiniert mit den Vorbereitungen beschäftigt. Der wahrscheinlich zehnjährige Sohn schärft das riesige Fleischmesser an einem großen Wetzstein, der letzte Schliff kommt von Carlos. Eine Plastikwaschschüssel wird hergebracht, die achtjährige Tochter grinst uns mit großen, neugierigen Augen immer wieder an. Der jüngste Sohn zeigt stolz und fachmännisch die anderen Werkzeuge, sein liebstes, das große Messer in seiner Hand. Jeder hat eine Aufgabe, wir probieren nicht im Weg zu stehen. Ein Stück Draht wird geglättet, Schweine können laut schreien. Giselle bekommt den Draht straff durch den Mund um die Schnauze gewickelt und wird daran zu ihrem Hinrichtungsplatz gezerrt. Füße in den Boden, 200 Kilo stemmen sich gegen den wahrscheinlich vierzehnjährigen Jungen, der zur Belustigung der älteren Geschwister das Schwein holt. Mit Stöcken und Eisenstangen kommen die anderen zur Hilfe, Giselle macht einen Satz nach vorne, wir stolpern nach hinten, aus unserer Zuschauerperspektive kurz rausgerissen, schnell wieder drinnen.

Das Schwein in der Mitte der Familie, am Draht im Mund nach vorne gerissen, ein paar der Kinder befestigen Drahtschlaufen um die Beine, das Tier immer weiter fixiert. Ab und zu schreit sie auf, eher ein stilles Kräftemessen als ein lauter Kampf. Ein gezielter Tritt, das Tier liegt auf der Seite, die Füße mit dem engen Draht an der Eisenkette. Hochziehen und seitlich auf der Schlachtbank hingelegt. Blick zu uns. Schweine haben sehr menschliche Augen. Grün-braun. Wir haben wirklich mehr Winden, mehr Schreie, Überlebenskampf erwartet. Sie ist ruhig.

Carlos hat eine zu einem Haken umgebogene, zugespitzte Metallstange geholt, in der anderen Hand einen Hammer. Der Sohn, der die Schnauze fixiert, lehnt sich mit ganzem Körper und Kraft nach hinten, der Hals offen und frei.
Die Spitze wird am weichen Teil unter dem Kinn angesetzt, mit drei, vier kräftigen Schlägen rein geschlagen, ein Schrei, dann wieder Ruhe. Empörtes Grunzen.
Der Kopf wird am Haken weiter nach hinten gezogen, die Beine und das kurze Schwänzchen mit Draht am Tisch fixiert. Eine der Töchter kommt, gießt etwas warmes Wasser über den Hals, wisch mit einem Lappen drüber. Das geschärfte Messer, eine große Waschschüssel, jeder auf seinem Platz. Ein gezielter Schnitt in den Hals, Blut fließt, strömt, sprudelt. Die jüngste Tochter hat ihren rosa Pulli über die Ellbogen gezogen und rührt mit bloßen Händen in der immer voller werdenden Schüssel. Blutspritzer auf der Kleidung, im Gesicht, nachdem sie sich die vom Wind verwehten Haare weggewischt hat. Neugieriges Lächeln zu uns. Von allen werden wir immer wieder beobachtet. Carlos hält immer noch den Haken, stemmt sich nach hinten, wenn das Tier unter lautem Grunzen und Quieken den Kopf herumreißen will. Wir stehen da, verschränkte Arme und beobachten die Szene.
Der Blutstrahl wird dünner, während wir auf einen Moment des Todes warten. Ein letztes Aufbäumen, ein letzter Schrei, doch das muss schon irgendwann passiert sein. Immer ruhiger, ruhig und dann werden die Fixierungen gelöst.

Aus dem Tier, Giselle, oder doch nun ein Kadaver, kommt noch etwas Blut, als es auf dem Tisch zurechtgerückt wird. Die Mutter ist mit der verschmierten Blutschüssel und den Töchtern rein gegangen, um Blutwürste zu machen. Ein Stück Tier, das bei fast jedem Asado zu finden ist. Nicht gebrüht, gegrillt.
Sie oder es liegt auf der Bank, der tödliche Schnitt sieht nach einer kleinen Wunde aus und Giselle friedlich dösend, wie noch vor wenigen Stunden im sandigen Schatten.

Der älteste Sohn, unser Alter, lehnt auf dem Kadaver und raucht. Seine Geschwister kommen vorbei, alle befühlen das Fleisch, schauen, ob es guten Schinken geben wird, fachmännisches Nicken. Der Zwölfjährige behält das Messer in der Hand, schnipselt am Ohr herum, wir beobachten und werden von allen beobachtet. Carlos kommt mit Bier und zieht zwei Stühle für uns heran, wir werden abgesetzt, trinken. Ein bisschen Smalltalk entsteht, wir erfahren, dass wir darauf warten, bis das Wasser kocht. Immer wieder werden probeweise ein paar Liter aus dem riesigen Topf geschöpft und über das Tier gegossen, dann mit Metallspachteln probiert, die Borsten mit ersten Hautschichten abzuschaben. Ein Nachbar kommt vorbei, ein Kniff in das tote Fleisch und anerkennendes Nicken. Hühner und Hunde kommen immer näher zur Schlachtbank, klauen die versuchsweise abgeschabten Haut- und Borstenfetzen, dann geht es los. Drei, vier Leute schaben am Tier, Carlos gießt immer wieder das dampfende Wasser über das Tier. Beißender Gestank von verbranntem Haar in der Luft, immer wieder landen Borstenbüschel unter dem rußigen Kessel. Lachen, quatschen, rauchen, trinken und schaben, wir weiterhin auf unseren Zuschauerplätzen. Facturas, süße Teilchen, werden angeboten. In Zucker und Butter getränkter Blätterteig mit bunten Zuckerstreuseln und Vanillepudding.
Ich lehne ab, alle lachen, und fragen dann etwas besorgt, ob mir schlecht sei. Ich brauche kurz, um zu verstehen, dass sie wegen des Schlachtens fragen und bin überrascht, wie distanziert ich den ganzen Prozess bisher anschauen konnte.

Es ist immer noch schwierig für mich zu sehen, dass da keine dösende Giselle liegt, die eine kräftige Massage zwischen Dampf bekommt, sondern ein totes Tier gereinigt wird. Die Prozedur dauert, alles muss abgeschabt werden und der Körper entfernt, verfremdet sich immer weiter, die Augen wimpernlos, kein braun-erdiger Schmutz zwischen drahtigen Borsten, sondern glattes, rosa-weißes Fleisch. Die Farben erinnern immer mehr an die Auslage in der Metzgerei.

Eine Gasflasche mit Schlauch wird aus dem einfachen Haus geholt und zum Flammenwerfer. Die vereinzelt übrig gebliebenen Borsten werden weggebrannt, die Nägel komplett verbrannt, bis nur schwarz verkohlte Klumpen an die Hufen erinnern. Sie werden abgezogen und den Hunden zugeworfen, die mit eingezogenem Schwanz in Sicherheitsabstand warten.
Darunter, im gleichen weiß-rosa wie der restliche Körper, der Schweinefuß, nur nagellos. Das Ohreninnere wird mit einfachen schnellen Schnitten herausgetrennt, ebenso der After. Die Wunde, die bloß liegende Darmöffnung, mit Garn verknotet. Die Hinterbeine der Länge nach aufgeschnitten, damit ein T-förmiges Stück Metall, mit Haken am langen Ende, dazwischen gespreizt werden kann. Eine letzte Zigarettenpause, dann wird das Tier kopfüber an der Metallkette hochgezogen. Es ist später Nachmittag, der Himmel wird immer blasser und bereitet sich auf den Sonnenuntergang vor.

Ein vorsichtiger, langer Schnitt das ganze Tier abwärts, das Innere noch von einer weißen Schicht gehalten, die mit einem zweiten Schnitt durchtrennt wird.

Der Darm, der gesamte Verdauungstrakt liegt wie in einem Modell im Wartezimmer im weißen, blutleeren Schweinekörper. Der Schnitt darf nicht zu tief gehen, darf auf keinen Fall den vollen, gespannten Darm anschneiden. Das Brustbein wird mit kräftigen Hammerschlägen auf das Messer zertrennt, die Organe händisch zurückgehalten, dann plumpsen Magen und Därme in eine bereitgestellte Schüssel. Die anderen Innereien entweder in die Schüssel am Boden oder eine Metallschale auf der noch blutigen Schlachtbank.

Im orange-rot der untergehenden Sonne hängt der bleiche Körper, offen und rein. Drei Menschen ziehen die beiden Hälften auseinander, Carlos, mit Hammer und wieder geschärftem Messer, bricht Stück für Stück die Wirbelsäule auf, Schweiß in seinem Gesicht, trotz der immer kälter werdenden Luft. Immer wieder einen Schritt zurück und seine Helfer probieren mit vereinter Kraft, das Tier zu brechen. Noch ein paar Schläge mit dem Messer, das Abendrot wird langsam von Dunkelheit verschluckt, die Glut gibt noch Licht. Irgendwann ist es geschafft, die beiden Hälften nur noch von Haut zusammen gehalten, die Knochen gebrochen. Es ist kalt und dunkel. Die Innereien aus der Schüssel mit dem Messer grob zerteilt und Richtung Hunde geworfen, die sich schnell mit großen Brocken in verschiedene Ecken des Hofes verteilen, um ihre Beute zu verspeisen.
Das Fleisch an der schweren Kette, das vor nicht allzu langer Zeit Giselle war, wird höchst möglich gezogen. Über Nacht ist es kalt genug in der Wüste.

Noch ein gemeinsames Bier am Feuer, kurz sprechen wir über das Schlachten. Für uns überraschend ruhig, für ihn auch. Wir besprechen noch, welche Stücke wieder unsere Gastfamilie nehmen wird und fahren verfroren nach Hause. Am nächsten Tag werden die Stücke abgeholt, ein paar Tage später als Braten auf dem Tisch.
Wir dürfen nicht erwähnen, dass es Giselle ist, sonst könnten sie das Fleisch nicht essen. Natürlich ist es allen klar, aber die emotionale Bindung zu einem Tier, das auf dem Hof geboren und mehrere Jahre gehalten wurde, zu groß.

Nach eineinhalb Monaten geht es für uns weiter, zumindest ein paar Kilometer zu einem anderen Projekt. Ein riesiger Garten und Obstbäume, Frühlingsbeginn. Der gelbliche Rasen wird jeden Tag ein Stück grüner, bei der riesigen Eiche platzen die Blätter immer weiter auf. Der blasse Grünschleier im kahlen Baum wird von Tag zu Tag dichter und wandert die Krone herab. Überall riecht man den Frühling, blütenparfümierte Windstöße. Die Papageien knabbern junge Äste für ihre riesigen, zusammengesteckten Nester ab, unter der Eiche eine Geräuschkulisse aus lautem Bienensummen. Die Kirschen und Pflaumen blühen, im Dezember wird es Früchte geben.

Wohnen wo der Pfeffer wächst
Frühlingsboten
Ein paar neugierige Papageien

Es ist immer noch kein Inlandstourismus erlaubt, doch jede Woche werden die Proteste lauter. Und dann, nach einem weiteren Monat die Nachricht, dass der Touristenort Valle Grande, Wellenberge in blassgelben, dunklen sandfarbenen und rötlichen Schichten, öffnet. Nur die Hütten am Fluss, der sich durch die zerklüfteten Berge schlängelt, noch keine Campingplätze. Wir mieten am selben Tag für eine Woche, kaufen Lebensmittel und fahren am nächsten Morgen eine halbe Stunde weiter. Nicht viel, in Argentinien eigentlich nichts und trotzdem, ein kleines bisschen fast so wie reisen.

Berge vor unserer Hütte