März – Juli 2021
Zurück aufs Campo, wieder einmal. Unser Weg in Argentinien hat in Rojas inzwischen einen klaren Mittelpunkt, schlaufenförmig immer wieder hierher zurück.
Wir leben wieder in dem Haus zwischen riesigen, weiten Feldern. Können uns jetzt dank Lichterketten auch abends noch im Haus aufhalten und lesen, das Zelt aufgebaut in einem Zimmer, Schlafzimmer. Eine selbstgebaute Bank mit Schlafsäcken als Sofa und eine zurecht gesägte Leiter als Regal. Nach den Wochen zwischen Kombis und Ersatzteilen Luxus. Fast.
Mit Blick von außen ein sehr renovierungsbedürftiges Haus mit improvisierter Gemütlichkeit.
Daisy kommt aus Deutschland, Käse für uns in der Tasche, und wir arbeiten zusammen. Die nächsten Wochen und Monate steigen wir immer tiefer, wenn auch immer noch nur an der Oberfläche, ein in Landwirtschaft. Schreiben zusammen Texte für die Website des Projekts, besuchen andere Farmen, lernen das Gelände nochmal neu kennen. Spanisch erweitert sich für uns nach sehr vielen Autovokabeln um Landwirtschaftswortschatz.
Ein paar Hände voll Soja frisch vom Feld für unser Abendessen und gemeinsames Pläneschmieden für die Renovierung des Hauses.
Für eine Woche fahren wir mit nach Buenos Aires, so eine richtige, große Stadt. Überfordert. Zu viele Menschen, Autos, alles wahnsinnig schnell. Ach, geliebtes, gemütliches Rojas.
Trotzdem ist Corona weiterhin präsent bei uns, die Sommerferien sind seit einigen Wochen vorbei, die von uns erwarteten, strengen Regulierungen bleiben aber erstmal aus. Streit zwischen den unterschiedlichen Provinzregierungen, zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien, was der richtige Weg ist.
Wie überall, wie immer, como siempre.

Anfang April geht es los. Die Renovierung vom Haus soll starten und bei uns fängt langsam der Winter an. Alles wird in Taschen und Kisten im Kombi verstaut. Mal wieder.
Wir sind schon lange nicht mehr in einem Reiserhythmus, leben auf Zeit an unterschiedlichen Orten, binden uns ein bisschen an, erschaffen ein bisschen Alltag und lassen uns nie ganz darauf ein. Wir fahren ja bald weiter, sind ja hier nur ein paar Wochen.
Lange überlegen wir, wo und wie wir überwintern wollen.
Einfach rumreisen ist für uns noch nicht verantwortungsvoll möglich, erste Impfungen haben gerade erst begonnen, wir sind noch lange nicht dran. Weiter südlich, wo wir mehr Menschen kennen würden, zu kalt. Im Haus wird die nächsten Monate Baustelle und Regen sein, bei dem wir das Grundstück ohne Vierradantrieb nicht verlassen können.
Wir finden eine kleine Cabaña, eine Hütte, in San Marcos Sierras, Córdoba. Eine Provinz weiter, falls wieder alles zu machen sollte, würden wir sicher wieder nach Buenos Aires Provinz zurück kommen, hier haben wir am meisten Zeit verbracht und eigene Netze gesponnen.
Gut zwei Wochen wollen wir die Provinz erkunden und dann ein paar Wochen oder Monate im eigenen Häuschen leben. Mit Küche. Und Schlafzimmer. Und Strom und WLAN. Wohnen im Dorf mit Läden vor der Tür.
Wie immer erst noch ein Abstecher beim Mechaniker, alles hört sich gut an, zumindest nicht besorgniserregend, und wir fahren los.
Wir sind nervös vor der Provinzgrenze, wir haben nicht die nötigen Dokumente, die man momentan zum Reisen im Land braucht, die Anmeldung geht nicht mit unserer Passnummer, die im Gegensatz zur argentinischen DNI nicht nur aus Zahlen, sondern auch aus Buchstaben besteht.
Zwischen LKW werden wir ignoriert und sind seit Monaten wieder mal in einer neuen Provinz. Aber erstmal immer noch nur Landwirtschaft um einen herum, schnurgerade Straßen und ab und zu eine Parrilla am Straßenrand. Irgendwann halten wir, essen Abendessen in dem sonst leeren Restaurant mit einem Besitzer, der im hinteren Teil wohnt und uns sofort anbietet, uns in seinem Garten abzustellen. Am nächsten Morgen stehen wir früh auf, verstauen das Bett und machen uns auf den Weg. Heute werden wir endlich wieder Berge sehen!
Ein erster, ganzer Reisetag.
Die Provinz Buenos Aires ist die größte in Argentinien und es ist nur flach. Fast die gesamte Region ist landwirtschaftliche Anbaufläche. Wo sich Soja und Mais nicht rentiert, stehen Kuhherden, die höchsten Berge sind Hügel.
Und am nächsten Tag taucht plötzlich eine hellblaue Bergkette am Horizont auf. Aufgeregt, mit den Fingern auf die Silhouette deutend, immer weiter, Stück um Stück näher an die Berge und plötzlich sind wir da. Die Straße wird kurviger, der Asphalt verschwindet und wir pendeln uns auf dem Schotterweg in gemütliche Reisegeschwindigkeit ein.
Musik laut, Sonnenbrille rauf, Fenster runter.
Der Ort, zu dem wir wollen, ist auf der Karte nur mit viel Zoomen zu finden. Flüsse und Berge und Campingplätze.
Die Straße wird steiler und langsam schleicht sich wieder eine Aufregung in unsere Bäuche, Reiselust. Endlich sind wir wieder unterwegs, können jederzeit anhalten und einfach da bleiben, jederzeit weiterfahren. Immer noch beschränkt, natürlich. Landesgrenzen halten uns fest, aber das Land ist riesig und wir wollen zumindest die paar Wochen, bis es zu winterlich wird, noch möglichst viel sehen und wieder was tun. Unterwegs sein. Vielleicht mehr Urlaub als Reise, aber die Begriffe verschwimmen in dem Zustand, in dem wir sind, unterwegs und weg von zuhause, aber heimatlich in Argentinien.
Die Straßen sind jetzt wirklich eher Feldwege und unser Auto zieht sich langsam den Anstieg hoch, schnell die kurvigen Wege runter und irgendwann sind wir da.
Wir stellen sehr schnell fest, dass dies zwar ein beliebter und auch wunderschöner Ort ist, viele Campingplätze für Wanderausflüge, aber nur im Sommer. Die Saison seit mehr als einem Monat vorbei, nur noch die Menschen da, die hier leben und die brauchen keine Campingplätze. Wir fragen uns ein bisschen durch, weniger wegen eines Platzes, Straßenrand geht auch immer, mehr wegen einer Dusche. Der Kiosco-Besitzer schickt uns weiter zu einem Haus, klatschend stehen wir vor der Tür und fühlen uns sehr argentinisch.
In den Dörfern gibt es selten Klingeln und durch das Klatschen löst man die Hunde im Patio, Hinterhof, aus, die bellend auf uns aufmerksam machen. Eine Frau kommt raus, sie hat zwar einen Campingplatz, aber irgendwie nicht jetzt. So ganz kommen wir nicht mit, sie ist sehr kurz angebunden und irgendwann nicken wir einfach, sí, claro, und gehen zurück zum Auto.
Ein Mann klopft an die Scheibe, er habe von einer Frau, die mit im Kiosco war, als wir nach einem Platz gefragt haben, gehört, dass wir uns irgendwo unterstellen wollen. Oder so. Eifrig nickend, sí, claro, und wir fahren seinem Pick-Up hinterher, verlieren ihn fast aus den Augen und stehen in einem Garten, riesige Bäume erschaffen sichtgeschützte Plätze, wir dürfen uns abstellen, die Dusche verwenden, haben Licht.
Wir bleiben für ein paar Nächte, sind tagsüber am Fluss und in den Wäldern unterwegs, vorbei an Grotten voll christlicher Heiligenfiguren, allein an den Kiesbetten, genießen die letzten warmen Tage und können endlich mal wieder in einem Fluss baden. Endlich Berge. Buenos Aires ist schon wahnsinnig flach.


Die Anden erstrecken dünne Arme in die Provinz Córdoba und wir sind bergversessen, wollen in der Nähe bleiben, wieder ein bisschen mehr Reisegefühl zu bekommen.
Durch Villa General Belgrano, bleiben für eine Nacht am Busbahnhof und laufen verwirrt durch den deutschen Einwandererort, der aussieht, als ob jemand ein bayrisches Postkartenidyll nach einmaligem Besuch nachgebaut hätte. Komischer Kitsch, leere Kulisse.
Wieder weiter, der Blick auf die Karte und wir peilen eine neue Straße an, über Berge, an Seen vorbei.
Die Straße ist überraschend gut ausgebaut und wir merken trotz altem Auto nicht, dass wir irgendwann die 2000m passieren. Neben uns Felswände und Schluchten, keine Bäume mehr, zum Horizont erstrecken sich kleine, grün-braune Quadrate, zwischen unserem Bergarm und den noch viel höheren Anden flache Landwirtschaft, von hier ein kleinteiliges Mosaik.
Immer wieder sind am Straßenrand kleine Aussichtsplätze, Miradores, ab und zu werden Kaffee, Lebensmittel oder Kunsthandwerk verkauft.
Mal steht neben Plastikstühlen ein vollbeladener Grill für den Mittagstisch. Ein paar Autos sind unterwegs, und auch wenn wir für unsere Verhältnisse überraschend schnell im Berg unterwegs sind, haben wir vor uns fast immer freie Straße und werden mal von einer angestauten Kolonne überholt, ganz alleine und wieder von vorne.

Minutenlang Bergplateau mit riesigen, runden Steinen neben uns, dann immer wieder unterbrochen, durchgebrochen, von riesigen Schluchten mit unendlichem Blick. Ein Schatten fliegt vorbei, raus!, und wir halten an der kleinen Parkbucht.
Fabeltiergleiche Vögel lassen sich auf unserer Augenhöhe auftreiben, Andenkondore. Eine Unmöglichkeit als Tier, für uns unerklärlich, dass diese riesigen Geschöpfe fliegen, gleiten, landen und wieder von dem kleinen Felsvorsprung los.
Mit die erstaunlichste Begegnung. Immer wieder kreisen sie einen Meter neben uns durch die Luft, nach ein paar zeitlosen Minuten schrauben sie sich Stück für Stück weiter nach oben, die Kreise werden größer und verschwinden, ja, wahnsinnig kitschig, richtung Horizont. Wir schauen noch ein bisschen hinterher, stehen am Rand der Schlucht, lassen die Weite auf uns wirken und gehen zurück, fahren weiter.

Wir wollen im Berg übernachten und bleiben in einem von Felsen umrandeten, windgeschützten Mirador stehen. Eine Gruppe Gauchos reitet vorbei, drei Männer in der traditionellen Kleidung – bombachas, boina, alpargatas – je ein weiteres Pferd mit dabei. Wir nicken einander zu, die Stimmen entfernen sich. Ab und zu fährt ein Auto auf der Bergstraße vorbei.
Nach einem Mate wollen wir doch noch weiter, zu windgeschützt, die Weite fehlt und tatsächlich finden wir ziemlich direkt hinter der nächsten Kurve einen der schönsten Orte, an denen wir bisher übernachtet haben.
Die Landschaft vor uns flacht ab, kilometerlang den Berg hinab, riesige, runde Steine ergeben ein natürliches Labyrinth, Sitz- und Ausguckfläche. Ein paar Menschen sind da, man kann sich immer sichtgeschützt voneinander setzen. Ein schmaler Pfad führt zu ein paar Häuschen in abgeschiedener Ferne, wir bleiben mit dem alten Kombi besser recht nah an der großen Straße, weit genug weg, um für uns zu sein. Wir schauen in die Ferne bis zum Sonnenuntergang, irgendwann ist es dunkel und der immer präsente Wind wird schneidend.





Der nächste Morgen in unwirklicher Nebelstimmung, die Nacht hat alles abgekühlt, wir fahren weiter, sind noch fast alleine auf der Straße und fahren ein bisschen weiter die Bergstraße, schneller, bergab. Auf der anderen Seite der dünnen Bergkette, weiter in den Norden, nur ein kleines Stück. In einem ausgestorbenen Ort, der überraschend groß ist, dafür wie ausgestorben er ist, essen wir beim einzig offenen Restaurant überraschend gut Mittagessen und machen uns mit ein paar Lebensmitteln auf zu einem Platz am Fluss, der uns empfohlen wurde.
Im Sommer ist es hier sicher voll, jetzt stehen die einzelnen Parrillas und Tische verloren zwischen den Bäumen, niemand da. Wir stellen uns ab, verbringen den Tag am Fluss, zu niedrig zum Schwimmen, genug zum Planschen und Durchwaten.

Für die nächsten Tage ist Regen angesagt und wir können nicht länger als eine Nacht bleiben, die jetzt noch staubtrockenen, sandigen Straßen würden uns sonst in Matsch einkesseln. Der nächste Tag startet also früh, mit dunklen Wolken und wir machen uns möglichst schnell auf den Weg, erreichen die Straße noch bevor es das erste Mal kurz regnet.
Kurz vor dem Städtchen, wo wir den Tag verbringen wollen, haben wir die anstrengendste und längste Polizeikontrolle. Wir werden natürlich immer wieder angehalten, fast bei jeder der vielen Polizeikontrollen, die spontan an der Straße errichtet werden, müssen wir zumindest kurz Start- und Zielort nennen, wodurch auffällt, dass wir keine Argentinier*innen sind und erklären müssen, warum wir mit einem chilenischen Kombi während der Pandemie unterwegs sind. Meistens sind das trotzdem ganz nette Begegnungen, ah, Alemania 1:0, Weltmeisterschaft 2014 oder la mejor cerveza und von uns eine Einschätzung zum argentinischen Bier und lachend weiter.
Diesmal nicht. Der Polizist verzieht keine Miene und ist überzeugt, dass er bei uns Drogen finden kann. Mit einem Kollegen durchsucht er über eine Stunde das Auto, öffnet alle Türen, schaut in verschiedene Boxen und Taschen, lässt sich alles öffnen und erklären, wahnsinnig verbissen, unfreundlich. Er wird nicht fündig, irgendwann merken wir, dass zumindest sein Kollege überzeugt ist, dass wir nichts dabei haben, er wechselt schon zu Smalltalk.
Für uns ist die ganze Situation wahnsinnig anstrengend, alles natürlich auf Spanisch und wir sind wahnsinnig geschafft, als wir endlich weiter dürfen. Im Nachhinein, wenn wir davon erzählen, wird oft lachend gemeint, jaja, die Polizei in Córdoba ist mit die strengste und mit ein paar Pesos hätten wir wahrscheinlich schneller weiter gedurft, wahrscheinlich haben wir viele Winke dank mangelndem Spanisch nicht verstanden.
Wahrscheinlich tut da eine gewisse Naivität doch ganz gut.
Die nächsten Tage sind wir eher in kleinen Orten unterwegs, oft an Seen. Noch einmal kreuzen wir die Berge, diesmal deutlich langsamer auf einer Schotterstraße. Kaum andere Menschen, nur ab und zu überholen wir ein Fahrrad, was uns meist ein bisschen später wieder überholt, wenn wir aussteigen, um Fotos zu machen oder um uns die vielen kleinen Altare und Marienfiguren, die immer wieder in kleinen Felsvorsprüngen und Grotten aufgebaut sind, anzuschauen. Ein paar Mal halten wir an und laufen ein Stück in den Berg, können uns nach ein paar Metern vorstellen in der Wildnis zu sein, klettern Felsen nach oben, ab und zu überraschen wir eine weidende Kuh und haben nochmal eine Begegnung mit Kondoren.

Über uns, wahnsinnig weit entfernt und immer noch groß, schrauben sich erst fünf, dann immer mehr Tiere nach oben, gleiten noch ein paar Mal in die Tiefe, werden immer mehr, um die dreißig Vögel, wahrscheinlich nicht nur Kondore, und sind irgendwann nur noch kleine Punkte, verschwinden.




Wir drehen eine Runde in der Provinz, wollen nicht aus Versehen ausgesperrt sein und verbringen nochmal ein paar Sonnentage an unserem Platz am Fluss. Morgens ist das Auto immer umgeben von Pferden, die wahrscheinlich irgendwem gehören, aber hier frei über die Wiesen laufen, durch den Fluss waten, auf Abstand bleiben und trotzdem immer wieder neugierig näher kommen.
Ende April, wir fahren in unsere Cabaña nach San Marcos Sierras. Der Ort ist klein, die Wege alle aus Erde, ein Hippieort, wir leben hier Alltag. Haben unsere Läden, Cafés und Bars. Kennen ein paar Leute und lernen den Rhythmus des Dorfes kennen. Sonntagabend die Trommelgruppen, Mittwochnachmittag wird an dem kleinen Fluss ein paar Meter neben uns gesungen und getanzt. Ein paar Straßenhunde liegen dösig auf unserer Terrasse, wir arbeiten tagsüber weiter an den Websitetexten für’s Campo, regelmäßige Telefonate, planen und organisieren für das Projekt. Liegen abends faul in der Hängematte, trotz Winter die meiste Zeit warm. Nachts kann es abkühlen, einmal schneit es, was hier sonst nie passiert. Ein Hund kommt immer wieder zu uns, irgendwann mit gebrochenem Bein und bleibt. Bajo, niedrig. Ab jetzt bei uns mit dabei.

Wir verlängern unseren Aufenthalt noch einmal, überlegen unsere weitere Reise, überraschenderweise kein neuer Lockdown, zumindest nicht so streng wie erwartet, vielleicht, weil im Frühling Wahlen sind. Vielleicht bekommen wir es hier auch nur nicht so mit.
Verglichen mit den anderen Orten, die wir bisher kennen gelernt haben, hören wir hier Verschwörungserzählungen und probieren esoterische Glaubensdiskussionen zu vermeiden. Die ersten Impfungen finden in Argentinien statt und auch als der Punkt gekommen ist, dass die Priorisierung aufgehoben wird, können wir uns in dem System nicht registrieren, wir haben keine DNI. Córdoba hat zu dem Zeitpunkt keine andere Form der Registrierung, zumindest keine, die für uns ersichtlich ist.
Irgendwann steht der Weiterreiseplan, wir beenden langsam die Arbeit, die Website ist online und wir wollen den Norden Argentiniens bereisen, ein anderes Argentinien nochmal kennenlernen, andere Kultur, andere Musik, anderes Essen.
Mitte Juli geht es los.