
Und dann geht es plötzlich los. Es kommt einem zumindest plötzlich vor. Ein paar Wochen vor unserem Start haben wir endlich ein Projekt gefunden, wo wir hinkönnen. Es ist nur in einer anderen Provinz, Mendoza. Es dauert, aber irgendwann heißt es, wir dürfen los. Unsere letzten Tage verbringen wir mit Packen und kleinen Reparaturen am Auto, mit neu kennengelernten Freunden in endlich offenen Bars bei dem hier allgegenwärtigen IPA.

Wir sitzen im Auto, es ist dämmrig, bei uns ist Winter, wenn auch glücklicherweise gerade kein Schnee liegt, aber die Sonne kommt auch nicht vor neun hinter den Bergen hervor.

Pain au chocolate und Baguette in der Bäckerei, ein bisschen überdreht. Wir haben keine schriftliche Erlaubnis, braucht man anscheinend nicht. Uns wurde versprochen, dass für uns alle Polizeistationen auf der Strecke angerufen wurden. Erscheint uns absurd, aber vielleicht nur die argentinische Lösung. Voll Spannung auf dem Weg aus der Stadt raus, immer ein suchendes Auge nach der ersten Polizeikontrolle. Die Sonne färbt den Himmel in dunkles rot, wir fahren die leicht verschneiten Kurven nach Norden. Unser Ziel ist San Rafael, 1000km weiter im Norden. Hier eine kurze Strecke, für ein normales Auto ein Tag, unsere Oma Lotte wird länger brauchen. Bergauf mit 50km/h, runter auch mal 90. Gemütlich.

Neben uns Nadelbäume, noch liegen sie im Dunkeln, bilden Silhouetten vor tiefem rot, Schneeböen auf den Ästen.
Ab und zu überholen uns Pick-Ups, Vierradantrieb ist hier von Vorteil. Wir haben dafür Zeit die Landschaft um uns zu genießen.
Die Strecke ist bekannt, vor dreieinhalb Monaten sind wir hier lang gekommen, trampend und unsicher, wie sich unsere Reise entwickeln wird. 110 Tage Ausgangssperre in Argentinien, die ganze Zeit in San Martín de los Andes. Argentinien hat seit einiger Zeit die längste Pflicht-Ausgangssperre, eine der strengsten. Unser Glück, nicht in Buenos Aires zu sein. Spazieren gehen zu dürfen, Rad fahren, kurze Ausflüge. In der Hauptstadt weiterhin nur das Nötigste einkaufen und viel Polizei.
Und wir dürfen weg, auch, weil bei uns im Ort kein einziger Fall ist, in unserer Provinz überschaubar. Nur das chilenische Auto wird kritisch beäugt, landet von irgendwem fotografiert in einer Facebook-Gruppe – Was machen hier jetzt Chilenen? Alte Feindlichkeit in das Nachbarland oder neue Angst vor den vielen Infektionen?

Junín taucht vor uns auf, hier die Polizeistation, wo wir auf unseren letzten Lift gewartet, da die Tankstelle, wo wir nach der engen Autofahrt gefrühstückt und telefoniert hatten.
Und dann Stadtende, die aufdringlich und unablässlich blinkenden Polizeiwagen vor uns. Hier wird sich zeigen, ob in Argentinien das Versprechen und Telefonieren reicht. Die Polizisten sind lieb, sprechen langsam mit uns, lachen und lesen gespannt den Zettel durch, der auf spanisch unsere Situation zusammenfasst. Name, Passnummer, Alter. Kurz verschwinden sie im Container, fotografieren das Nummernschild, geben die Papiere zurück und winken uns durch.
Motor starten und los.
Laut Musik, Toto – Africa und alleine auf der weiten Straße, Fast-Freiheit, die Landschaft anders als auf der Hinfahrt, neu, verschneit, kurvig.
Langsam fahren wir immer höher, die Berge um uns flache Hügel, bewachsen mit den niedrigen, immer gegen Wind kämpfenden Grasbüscheln, dunkelgrün, wo Wind und Sonne schon gearbeitet haben oder weiß bepudert. Überdreht in alle Richtungen zeigen, so weit, so anders. So plötzlich kommt das Reisegefühl wieder, immer wieder hatten wir Angst, die Reiselust kann verschwinden und so schnell ist die Angst vergessen. Wir wollen mehr sehen, erleben. Nach Argentinien nach Chile, ganz in den Süden und dann wieder hoch Richtung Äquator. Südamerika im Auto, danach sehen wir weiter.
Wir schlängeln uns immer weiter nach oben und plötzlich hören die Hügel, die uns einrahmen, auf, und ein tiefes Tal erstreckt sich zu unserer Linken. Sandbraun, leer. Im Hintergrund die weiß verschneiten Berge. Nach der nächsten Kurve ist alles flach um uns, die Straße eine schnurgerade Linie durch die Ferne.
Junge Nadelbäume zu beiden Seiten, wieder Schnee, matschiges weiß auf der wenig befahrenen Straße, zu wenig für unsere Schneeketten.
Immer wenn man sich an eine Landschaft gewöhnt hat, überrascht ein Tal, ein Plateau, eine neue Bergkette im Hintergrund. Kurze Pause und strecken.
Die romantisch still anmutende Winterlandschaft entpuppt sich als stürmisch laut, die Büsche, die währen der Fahrt starr verankert am Boden gedrungen aussehen im ständigen Kampf mit den Winden.
Unendliche Fläche, am Horizont Berge. Ein paar Tiere, wahrscheinlich Kühe, stehen als dunkle Flecken weit entfernt auf dem weiten Feld und grasen die spärlichen Gräser ab.
Mal sind die Tiere näher und man sieht das lange Winterfell im Spiel mit dem Wind. Ab und zu Ziegenherden, auch mit langem Haar gegen die andauernde Kälte. Mal reitet ein Gaucho gefolgt von seinen Hunden neben der Straße.

Kommt uns ein Truck entgegen hebt man grüßend die Hand, ab und zu eine Lichthupe. Und immer neue Landschaft.
In Zapala wartet ein Polizeiwagen auf uns, fährt uns durch die Stadt, verfährt sich, fragt nochmal nach unserem Ziel und lässt uns an der richtigen Straße raus. Pol1z1sten0hn – Ich hab‘ Polizei.

Hinter dem nächsten Hügel sind die Büsche nicht mehr in dunklen grün-braunen Schattierungen, sondern strohgelb. Kleiner, anders. Wunderschön weit. Wir halten an. Schneeverwehte Berge rahmen das satt-gelbe Tal ein, ein paar dunkle Hügel als Kontrast. Überall um uns herum, die Straße schlängelt sich durch und drüber, passt sich an die Landschaft an, selten fährt ein Auto vorbei. Fast sind wir alleine in Patagonien. Der Motor wieder ausgekühlt, wir haben noch viel Strecke vor uns.


Lange fahren wir auf die gleichen Berge zu, erreichen sie und es tut sich ein neuer Hintergrund für uns auf.
Und wie aus dem nichts erscheinen neben uns die Bergketten, die wir schon aus Marokko kennen. Sandfarben, weich. Mit bunten Gesteinsadern. Rot-, blau-, Grüntönen. Ein Hefeteig, in den man Kanten gedrückt hat, in der Sekunde erstarrt. Nur so viel weiter als Marokko. Wie klein andere Länder sind, wie riesig Argentinien, wie wenig wir bisher gesehen haben.


Die letzte größere Stadt vor der Provinzgrenze, Chos Malal. Es dämmert, wir sind bergauf langsam und es geht vor allem Berge rauf. Eine Polizistin kontrolliert die Papiere, wir fragen nach, ob es in Ordnung ist hier zu schlafen. Sie rät uns noch zum nächsten Ort zu fahren, noch 80km, nachts soll es schneien. Ein Wagen begleitet uns wieder durch den Ort, verliert uns ab und zu, bleibt stehen und wartet, wir sind langsamer als er. Am Ortsausgang haben wir uns entschieden, wir wollen hier schlafen. Noch die letzten Lichtstrahlen nutzen, um das Bett auszubreiten, zu kochen und Wasser für Tee, Thermoskanne und Wärmflasche aufzufüllen. Sechs Kilometer weiter können wir uns in eine Parkbucht stellen. Schnell raus aus dem Auto, kochen. Auberginen-Rotweinsoße mit Spaghetti. Ingwertee und dunkelroter Sonnenuntergang.

Gerade als wir uns einpacken, kommt noch ein Polizeiauto, eines der Gendameria. Die staatliche Grenzpolizei, es gibt noch eine Ortspolizei und eine fürs ganze Land.
Die vier bauen eine kleine Straßenkontrolle auf, David redet mit ihnen. Natürlich dürfen wir hier schlafen, kein Problem. Sie wollen ihre paar Sätze Englisch üben, What‘s your name? Passport? Nein, Nein, nur üben. Sie wollen keine Dokumente sehen.
Erleichtert endlich in unser Schlaflager, die Wärmlasche an den kalten Füßen.
Wir schlafen schnell ein und werden schnell wieder wach, es klopft an der Tür, um uns alles blau blinkend, grelle Taschenlampen leuchten uns durch die Scheiben an. Etwas verdattert schälen wir uns aus den Schlafsäcken, reden mit den Polizisten, Mitternacht.
Hier dürfen wir auf keinen Fall bleiben, wir müssen jetzt hinter ihnen zurück zum Orsteingang. Warum, können sie uns nicht erklären, warum die anderen es erlauben, auch nicht. Wollen sie vielleicht auch nicht.
Wir räumen rum, machen alles halbwegs fahrfest und fahren die kurvige Straße zurück zum Kontrollpunkt. Ein Parkplatz, hier dürfen wir stehen.
Zwei Hunde noch, der eine dreibeinig hinkend, begrüßen uns.
Wir kriechen zurück in die noch warmen Decken.
Der Wind ruckelt an der Tür.
Schlafen.
Am nächsten Morgen wachen wir früh auf, der Wind schlägt immer heftiger gegen die Tür und wir versichern uns immer wieder, dass die Handbremse auch wirklich gezogen ist.
Die wenigen LKW, die mit uns übernachtet haben, starten langsam ihren Motor. Noch ist für uns nicht klar, ob wir die Straße passieren können. Zu viel ungeräumten Schnee im kurvigen Berg trauen wir uns trotz Ketten nicht.
Alles halbwegs verstauen und zur Polizeikontrolle. Diesmal müssen wir nicht durch die Desinfektionsspraydusche fahren, sind wir schon am Vortag. Und überraschenderweise hat es nicht geschneit, wir können los, hinter der Polizei her. Nur windig ist es, wird uns noch mit auf den Weg gegeben. Wir werden noch zu einer Tankstelle gebracht, 30 Cent der Liter. Volltanken, bitte.
Und dann wieder raus aus der Stadt und alleine auf der Straße.
Enge Kurven schlängeln sich immer weiter nach oben, neben uns steingraue Felsen, Kieselflächen.

Irgendwann wird die Straße wieder gerader, ein neuer, weiß verschneiter Berg vor uns. Wir halten kurz an, Wasserflaschen auffüllen, Mate vorbereiten, das letzte Pain au chocolate als Frühstück. Musik an, Louis Armstrong – What A Wonderful World. Ja.

Die Berge in Schichten, den Blick freigebend auf sonnenbeleuchtetes weiß. Friedlich aus dem Auto, über die Ebenen fegender Wind, wenn man die Tür öffnet. Die Wolken rasen, formieren sich alle paar Sekunden neu und wir entdecken plötzlich einen weißen Wolkenfetzen stehend, hinter den grauen Wolkentürmen, die sich immer wieder davor schieben. Auf der weißen Fläche Regenbogenstücke. Wie darauf projiziert, gerade, aber auch runde Stücke. Fasziniert bleiben wir stehen, genießen den Anblick ein paar Sekunden, bis der Wind unser Bild wieder verändert. Fenster hoch und weiter.

Wieder geschichtete Marokkoberge, doch diesmal grau und mit hunderten, bunten Schichten gefaltet. Dunkelste Gesteinstöne, bunt durchzogen. Lange bleibt das Gesteinsmassiv an unserer Seite.

Sonne und Schatten spielen mit der Landschaft, verändern sich andauernd, ziehen in die Länge, legen den Fokus auf das weiß, auf die Ebene, auf die immer neuen Berge.

Die Provinzgrenze kommt immer näher, ein kleiner Ort noch, die letzte Polizeikontrolle in Neuquén.
Im nächsten Tal eine kleine See-, Flusslandschaft. Man sieht und spürt den Wind immer deutlicher. Über dem Wasser ein dünner Nebel, sprühendes Wasser, mit jedem Windstoß neu aufgestoben, Wellen peitschen über den sonst friedlich daliegenden See. Ein Pferd beobachtet uns mit wehender Mähne, immer wieder prasselt es auf dem Auto wie Hagel. Aufgewühlter Sand, kleine Steine fliegen um uns, legen sich wieder. Auf der Straße vor uns treiben sich Böen.

Ein letzter Blick nach hinten, noch einmal das Wasserwindspiel beobachten und wir entdecken drei pinke Punkte am Ufer, davor verdeckt durch Bäume. Flamingos!

Grenzkontrolle, lange Pause für uns. Das Auto wird wieder eingesprüht, die Polizisten, die mit uns reden, kämpfen auf dem Weg zwischen Container und Auto mit dem Wind. Mucho viento! Sí.
Wir dürfen über die Grenze, bekommen noch mehr Papiere in die Hand gedrückt, glücklich weiter. Und plötzlich hört die Straße auf, nicht wirklich, nur der Asphalt. Ein kleiner Hügel und wir stehen mit dem Auto auf einer Schotterstraße. Der Wind kann hier noch viel mehr Sand aufpeitschen, wie ein verschwommenes Foto, ein bräunlicher Filter liegt der Staub über unserer Sicht. Wir schleichen, leider kein Rückenwind und ohne Servolenkung gegen die Windböen ankämpfen. Viel Zeit, sich umzuschauen. Immer noch alleine auf der Straße, zumindest können wir es uns einreden. Eine kleine Brücke vor uns, einspurig, dass genau ein Auto drauf stehen kann. Wir bleiben stehen, die Brücken hier wurden uns vorab angekündigt. Bleibt stehen und guckt! Ein dünner Fluss schlängelt sich durch große, schwarze Gesteinsbrocken, halb versunken in feinem Sand, verschwindet in Kurven zwischen den Bergen, raus aus dem Sichtfeld.

Ein Tal und es ist nicht mehr alles braun, die Büsche hier dunkelgrün, auf den Bergen dunkle Punkte, nur ein kleiner Berg, ein spitzer Kegel ragt in der Mitte der Fläche auf. Wir erwarten berittene Gruppen hinter den Bergkämmen auftauchen, einen Drachen auf dem Hügel landen. Nichts passiert. Nicht mal Dinosaurier streifen durch das weite Land. Vielleicht sind wir nur zu früh hier.

Und weiter, die Straße bessert sich nicht, der Wind auch nicht. Seine Kraft spüren wir, wenn wir aussteigen. Nicht zu nah an den Straßenrand, gefühlt könnte einen jede Böe mitreißen. Wieder eine Brücke, wieder bleiben wir stehen. Eine Schlucht, ein Riss aus schwarzem Stein. Unten gräbt sich wieder ein Fluss seinen Weg.

Mal verschwinden die Berge hinter verschwommenem Sand, ab und zu halten wir an und lassen die fliegenden Sandwellen passieren.
Die Straße wird breiter, die Kiesel kleiner und kurz haben wir die vergebliche Hoffnung, dass wieder asphaltiert ist. Eine Kurve und dann das gelobte Land. Zumindest haben wir es beide sofort im Kopf. Die sandverwaschenen Braun-Gelb-Töne, die grauen Kieselsteine, das unfruchtbare Land ist in Sekunden vergessen. Bäume tauchen auf und markieren den Eingang zu der weiten, grünen Fläche, die jetzt vor unseren Augen auftaucht. Dunkelbraun-schwarze Plateaus, dahinter noch weiter grün, bis zum Horizont. Flüsse und Teiche durchziehen die Gräser, staunend fahren wir langsam weiter. Eine Herde Ziegen trottet gemütlich über die Straße, gesellt sich zu ein paar Pferden, die frei und wild zu uns rüber blicken. Je länger wir schauen, desto mehr entdecken wir. Schneebedeckte Bergmassive hinter den dunklen Plateaus, so blass, dass sie fast eins sind mit dem hellen Himmel, auch nur Wolkenfetzen sein könnten, unbewegt von den Winden und umspielt von echten Wolken. Wir reißen uns los, fahren weiter. Es liegt noch viel Strecke vor uns.

Und unsere Tanknadel kratzt am rot.
Immer wieder sind kurze Strecken asphaltiert, dann wieder nur Schotter. Auf der Ruta 40 kann man Argentinien von der südlichsten zur nördlichsten Spitze durchqueren, neben den Anden her. Eigentlich eine sehr beliebte und wichtige Strecke, wir sind immer wieder überrascht, dass sie nur einspurig und ja, nicht durchgängig asphaltiert ist.

Der Wind peitscht immer heftiger gegen den Wagen, es gibt inzwischen kaum noch eine Möglichkeit zwischen den einzelnen Windstößen zu fahren, die kommen nonstop und von allen Seiten. Viel aufgewühlter Sand, wie ein dicker Nebel vor uns, nur ab und zu etwas weitere Sicht. Langsam und gegen den Wind kämpfend schleppt sich das Auto nach vorne, die Straße zum Glück asphaltiert, aber viel Freifläche zu beiden Seiten, wo sich der Wind ungestört aufbauen kann, um mit voller Wucht gegen uns, sein Hindernis zu schlagen. Mit viel Kraft gegenlenken, konzentriert der geraden Straße folgen.

Und langsam werden wir etwas ängstlich, wie lange der Tank noch reicht. Wir haben zwanzig Liter im Ersatzkanister, beide noch nie so getankt. Im nächsten Ort, nur noch ein paar Kilometer vor uns, ist auf der Karte eine Tankstelle eingezeichnet. Hoffentlich reicht es noch bis dahin.
Der kurze Straßenabschnitt ist der anstrengendste, den wir je erlebt haben. Beeindruckende Kraft, von der wir hier umgeben sind. Der gelbe Nebel, immer in Bewegung, vor den festen, weißen Bergmassiven. David hinter dem Steuer ist durchgeschwitzt, als wir endlich die Berge erreichen und hinter der ersten Kurve etwas windgeschützter sind. Kleine Schübe prasselnder Sandkörner schlagen an das Auto und rieseln herunter, aber nicht mehr von allen Seiten. Die Tanknadel wackelt zwar, kommt aber nicht mehr aus dem tief roten Bereich und auch wenn der Sturm uns hier nicht mehr so heftig trifft, wir spüren in noch.

Die Häuschen kommen in Sicht, nur ein paar an einer Kreuzung und dann stehen wir neben dem Zapfhahn, der windschief auf einem Parkplatz steht. Unsere Tankstelle? Wir schauen auf die Karte, ja, der blaue Punkt von unserem Handy auf dem Tankstellen Symbol. Niemand ist da, der Zapfhahn nur für Diesel. Etwas verwirrt wollen wir weiter in den Ort, schauen, ob es noch eine Tankstelle gibt, aber der Ort besteht nur aus den paar Häusern und einer Polizeistation. Wir halten an und fragen den Polizisten, wo man tanken könnte. Sechzig Kilometer. Nicht die Antwort, auf die wir gehofft hatten, die wir brauchen. Wir verstehen uns kaum, der Wind lärmt noch um uns. Er probiert jemanden anzurufen, der vielleicht Benzin hat. Fährt los, um uns ein paar Liter zu besorgen und kommt mit leeren Händen wieder. Gut, dann doch aus dem Kanister. Wir dürfen bei der Polizeistation in eine leere Garage fahren zum befüllen. Zum Glück ist es nicht schwer und der Tank wieder halb voll. Große Erleichterung und anscheinend geht es zwar noch ein paar Kilometer bergauf, dann aber nur noch nach unten.

Verabschieden und los, aus dem kleinen Örtchen, das kaum seinen Namen verdient hat, heraus, eine weitere Kurve, wieder alleine und plötzlich ist es still. Der Wind hat sich gelegt, Ruhe nach dem Sturm.
Der Polizist hatte Recht, wir schieben uns noch langsam ein paar Kilometer den Berg hoch, oben angekommen haben wir den Blick über die kommende Strecke. Serpentinen schlängeln sich an den grün befleckten Hängen runter, ohne Gaspedal rollen wir, bis wir auf gerader, asphaltierter Straße sind. Das letzte Stück bis Malargüe, der ersten größeren Stadt in der Provinz, die letzte Stadt vor dem Ziel. Immer mehr Autos kommen mit uns auf die Straße, Strommasten am Rand, irgendwann erkennt man erste Häuschen und wir stehen an der Polizeikontrolle, werden sofort rausgewunken. Es ist kurz vor sechs, eigentlich wollen wir heute nicht mehr weiter fahren. Nach San Rafael sind es noch zweihundert Kilometer, wir kennen die Straße nicht und wären erst weit nach Sonnenuntergang da.
Der Polizist kommt auf uns zu, wir haben die Pässe und alle Papiere in der Hand. Doch anders als zuvor wirkt der Polizist nicht, als ob er uns durchlassen will. Er fragt, was wir wollen. Wir erklären es in Spanischbrocken, zeigen ihm den Zettel, auf dem alle Informationen drauf stehen. Turístico? Sí. Pero… Nein, also touristische Reisen gehen gar nicht, ob wir das denn nicht wüssten. Und sowieso müssen wir dann erstmal 21 Tage in Quarantäne. Geschockt schauen wir ihn an, nein, es sind vierzehn. Er beharrt auf seinen 21. Wir rufen unsere zukünftige Gastgeberin an, drücken dem Mann das Telefon in die Hand. Er verschwindet mit allen Papieren, den Pässen, dem Telefon im Haus und ja, wir stehen am Straßenrand und warten sehr lange. In der Zeit kommen drei andere Personen und füllen alle das gleiche Formular aus, zum Glück können wir inzwischen die Passnummern auswendig, haben einen Zettel, auf dem die Vornamen der Eltern stehen und die Wohnorte. Nur unsere spanische Telefonnummer wurde bisher nicht gebraucht und ist für uns ohne Handy auch nicht möglich herauszubekommen. Wir bekommen unser Telefon zurück, der Anruf läuft noch und unsere Lage auf deutsch zusammengefasst, kurz: Der Mann hat keine Ahnung. Das neue Problem ist das chilenische Auto, was uns auf dem Papier noch nicht ganz gehört. Wieder drücken wir ihm alle Papierstapel, die wir dazu haben, in die Hand, die Mappe leert sich. Zum Glück auch hier keine Fehler und er verschwindet wieder in seinem Container, um kurz darauf mit unseren aufgeschlagenen Pässen zurück zu kommen, auf den Einreisestempel zeigend. Da steht ja 2. März. Und unser spanisch ist aufgebraucht. Wie soll man erklären, dass die Regierung allen Touristen, deren Visum vor einem gewissen Datum ausgestellt wurde, es automatisch um einen Monat verlängert hat, und das alle zwei bis vier Wochen um einen weiteren? Natürlich haben wir keine Bestätigung dafür bekommen, haben auch nicht erwartet, irgendwas vorzeigen zu müssen. Der Polizist sieht zufrieden und wütend aus. Zufrieden, endlich einen stichfesten Grund, warum wir hier nicht sein dürfen und wütend, dass wir seine Zeit so verschwenden.
Fieberhaft überlegen wir, wo wir es gelesen hatten. Die Seite der deutschen Botschaft in Argentinien! Da war zumindest der erste Gesetztext zu finden, der zwar auch schon überholt ist, aber vielleicht reicht es ja. Kaum Netz, lange Ladezeiten und etwas Herzklopfen. So viel Polizei um uns. Wieder verschwindet er mit unserem Handy und dem offenen Text.
Irgendwoher kommt ein weiterer Polizist, von irgendwo organisiert, der englisch spricht. Fließend. Unfassbar lieb, mit Humor. Zusammen können wir die Lage erklären und er uns, was der wütende andere Polizist will. Vor allem haben die Leute hier Angst vor Menschen aus Chile, dem Nachbarland, nur ein paar Kilometer, wo das Virus unkontrolliert tobt. Wo so viel an Protesten war, ein Land, das so instabil war und komplett überrannt wurde.
Unser Visum passt, natürlich, unser Auto auch. Quarantäne sind vierzehn Tage, das einzige, was wirklich stimmt, dass wir sie hier im Ort abhalten müssen, erst danach weiter nach San Rafael dürfen. Inzwischen ist die Sonne kurz vor dem Verschwinden. Noch einmal telefonieren wir, drücken dem lieben Polizisten das Telefon in die Hand und lassen die beiden alles klären. Uns ist es gleich, wo wir die Quarantäne verbringen, wären auch zufrieden, den langen Tag abschließen zu können. Seit mehr als zehn Stunden sind wir im Auto, ähnlich wie am Vortag. Ein Polizeiauto stellt sich vor uns, das aufdringliche Licht blendet. Sie fahren uns jetzt zum Hotel, los.
Hinter uns ein Wagen, vor uns ein Wagen, plötzlich bleiben sie stehen. Warnblinker und rechts ran fahren, wir hinterher, der Wagen hinter uns mit. Irgendwann steigt vorne ein Polizist aus, läuft mit seinem Handy zum anderen Wagen, und der englisch sprechende Polizist kommt zu uns, wir dürfen, sollen, müssen jetzt bis San Rafael fahren. Letzte Energien zusammenraffen und los, noch einmal zur Tankstelle, der frisch aufgefüllte Kanister füllt den Autoinnenraum mit Benzingasen und wir fahren in tiefrote Landschaft. Hinter den Bergen glüht es, dann kommt die Dunkelheit und schluckt alles.
Wir fahren weg von den Bergketten, leicht bergab von unserem Plateau. Ein Auto kommt entgegen, wild Lichthupe gebend. Wahrscheinlich kein Gruß. Eine Warnung. Langsamer und vorsichtiger fahren wir weiter. Überlegen, was es sein kann und rechnen mit einer Ziegenherde, die nicht kommt. Zu unserer Linken eine Baumreihe und dann sehen wir den Grund: Ein Baum liegt auf der Straße, vom Wind ausgerissen, ein Loch in der Linie. Und dann noch ein Loch, ein Doppelloch. Alle paar Meter liegt ein Baum auf der Straße, frisch umgekippt und surreal in der inzwischen windstillen Umgebung. Mit was für einer Kraft der Wind hier ungebremst auf die Bäume geprallt ist. Der Sturm, den wir viele Kilometer früher erlebt, gegen den auch wir gekämpft hatten. Dreißig, vierzig Bäume liegen auf der Strecke, dem nächsten Auto geben auch wir wild Lichthupe, dann wieder ein kleiner Ort. Kurzer Blick auf die Papiere und weiter.
Die restliche Strecke nur von dem wandernden Lichtkegel vor uns erhellt. Einmal halten wir, stehen alleine in dunkler Weite und starren auf den immer größer werdenden Sternenhimmel.
Mitten in der Nacht, endlich das Lichtermeer von San Rafael in Sicht. Über hunderttausend Menschen, eine echte Stadt. Blaulicht zwischen den Bäumen, ein Polizeiauto winkt uns raus. David Gigl? Sí. Wir sollen kurz warten, ein Wagen wird uns abholen und in die Stadt bringen. Er zeigt uns Bilder, die bei einer der letzten Kontrollen von unserem Auto gemacht und ihm geschickt wurden. Ein bisschen Smalltalk, dann wieder Fenster hoch und in der immer kälter werdenden Nachtluft warten, dass wir abgeholt werden. Niemand kommt nach der angekündigten Viertelstunde. Wir spüren die Müdigkeit kommen, quatschen, hören Musik. Der Polizeiwagen neben uns blinkt penetrant. Nicht gleichmäßig, blau – dunkel, nicht blau – weiß. Mal fährt das Licht rasend die Röhre auf dem Dach lang, mal verschieden schnell blinkend. Kurze, zu kurze, regelmäßige Muster, alles flackert.
Nach weit über einer Stunde kommt endlich das erwartete Auto den Berg hoch, noch mehr Blaulicht. Von uns freudig erwartet, doch erstmal passiert nichts. Die Wagen stehen beieinander, das Licht blinkt blau-weiß. Blendet von beiden Seiten. Die Polizistïnnen stehen zusammen, ratschen, rauchen. Wir halten uns die Augen zu. Blaues Blinken vor dem inneren Auge.
Irgendwann wird uns zugewunken, wir starten den Motor, ausgekühlt. Der Polizei hinterher. Mit 80 km/h an 40er Verkehrsschildern vorbei. Irgendwann stehen wir vor dem Hotel. Nochmal Papierkram, Unterschriften, genervte Polizistïnnen. Alles muss sofort mit rein in das Hotelzimmer. Wir stehen mit unsren Boxen, verplant, müde, vor dem Hotel. Bekommen ein Infoblatt auf deutsch, unseren Zimmerschlüssel. Viermal am Tag wird es Essen geben, viermal am Tag wird es an der Tür klopfen; Mittagessen um 13:00 Uhr, Snack um 18:00 Uhr, Abendessen um 21:00 Uhr, danach Frühstück für den nächsten Tag.
Endlich da.
Zwei Wochen in dem Hotelzimmer. Nur in dem Zimmer.
Das Frühstück besteht aus zwei kleinen Semmeln, ein paar Scheiben Toast in Zwieback-Konsistenz, zwei zuckrigen Mini-Croissants (medialunas), und einer Tasse H-Milch und einer mit – natürlich kaltem – Instantkaffee. Das gleiche nachmittags nochmal als Snack, nur anstelle von Semmeln Biskuitkekse. Mittags und abends eine Portion Fleisch mit Kartoffeln und einem Obst dazu. Schwankt zwischen okayer Kantine und ungenießbar. Am Ende der zwei Wochen haben wir eine Holzkiste gefüllt mit trockenem Brot, Gastgeschenk für die Hühner oder Semmelknödel für eine Woche. Mal sehen. Wegwerfen wollen wir es nicht.
Zwischen den Mahlzeiten lesen, häkeln, Minesweeper und Karten spielen, Podcast hören.
Ohne die klar abgegrenzte Zeit würden wir vollkommen verrückt werden. Vierzehn Nächte, dann raus. Unser Glück, dass wir mitten in der Nacht angekommen sind. Dann endlich wieder was tun. Etwas, das wir normalerweise auch auf Reisen tun. Seit Mitte März in komischem Dämmerzustand, jetzt langsam wieder Neues.
Wieder, weiter Reisen.
