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Ein bisschen weiter in den Süden

Und irgendwann die Nachricht, man kann im Land reisen, die Provinzgrenzen sind offen. Anfang Dezember, Sommer und auch das Sommerloch, das es in Europa gab. Wir packen alles zusammen, euphorisch Richtung Meer und mehr, und dann, so der Plan, endlich Patagonien anschauen, nur im Auto unterwegs, Nationalparks besuchen und das Land, in dem wir seit dem zweiten März sind, besser kennenlernen.
Zwei Tage brauchen wir zum Atlantik, übernachten in der Nähe der Straße, abgeschieden für uns. Fisch essen am Meer, spazierend und Muscheln sammelnd, den Strand auf und ab. Immerwährender, kalter Wind reißt an einem, zum Schwimmen viel zu kühl.

Weiter.

Eine Nacht fahren wir weg von der schnurgeraden Hauptstraße, einen kleinen Feldweg, über eine Brücke und an einen Fluss. Auf der anderen Uferseite ein alter Gaucho, der seine Pferde und Kühe treibt, grüßend die Hand hebt und mit seinem Hund hinter dem nächsten Hügel verschwindet. Auf einer kleinen Insel im Fluss fischt ein Vogel. Kochen und mit Bier im Sonnenuntergang sitzen, plötzlich blaues Flackern, eine Polizeistreife hält.
Wie immer bei Kontrollen nervös und wie immer bisher grundlos. Der Polizist erzählt von seinen Reisen in Patagonien, wie viel schöner der Süden ist und dass wir eigentlich nicht hier schlafen dürfen, aber klar, für eine Nacht ist es kein Problem. Sí, claro.

Frühst morgens wachen wir auf, Sonnenaufgang kurz nach fünf. Die Pferde rennen vor kitschig rosa Himmel mit kleinen, windgetriebenen Wolken zum Fluss, um den ersten Durst zu stillen, wälzen sich wiehernd im Gras. Ein bisschen versunken und wir bemerken nicht, dass aus den kleinen Wölkchen dunkelgraue Türme geworden sind. Mit den ersten dicken Tropfen sind wir wieder auf dem Feldweg und probieren, möglichst schnell auf befestigte Straße zu kommen. Den ganzen Tag ziehen Wolken in Graustufen über den Himmel, immer wieder Regen. Unsere Scheibenwischer quietschen, das Auto ist ja schon alt. Die Straße, die wir fahren, kennen wir schon. Trampend sind wir hier schon einmal entlang gefahren, aus dem eigenen Auto knapp ein Jahr später sieht es anders aus. Stunden gerade aus, mit mehr und weniger Regen. In ein paar Tagen ist am obersten Rand Patagoniens eine totale Sonnenfinsternis. Die letzte, erste, einzige für uns bisher in 1999, verschwommene Erinnerungen von Kleinkindern. Alle Menschen hatten Brillen und haben nach oben geschaut.

Und dann quietschen die Scheibenwischer nicht mehr und machen auch sonst nichts mehr. Altes Auto, Oma Lotte. Der Regen ist verschwunden und wir fahren weiter an der Küste runter, zur nächsten Tankstelle, ein viel zu langer Tag. Neben uns eine Familie, auch im Auto reisend, ein Mercedes Sprinter, größer und geräumiger, aber sie sind ja auch zu dritt. Erfolglose Versuche, die Scheibenwischer gemeinsam zum Laufen zu bringen, wir müssen zur Werkstatt. Die nächste große Stadt ist Bahía Blanca, Industrie und Hafen. Einmal sind wir hier schon durch. LKW und kein Schatten am äußersten Ring um den Ort. Eigentlich haben wir gesagt, nie wieder. Wir finden eine VW-Werkstatt auf der Karte, das Foto auf Google zeigt einen rostig zerbeulten Kombi in einer Einfahrt.

Eine Reihe Schuhkartonhäuser, kleinste, meist betonierte Vorgärten, in denen auf Klappstühlen alte Menschen sitzen und beobachten. In der Sekunde, in der wir an der Adresse ankommen, kommt auch der Kombi vom Foto an und drei Menschen steigen aus, Frau und Kind gehen rein, der Mann kommt auf uns zu. Die erste Frage, seit wann wir das Problem haben. Wir antworten etwas verwirrt und der Anfang sechzig Jährige verschwindet im Haus, es ist Mittag, noch kurz was Essen und dann kommt er wieder. Wir warten am Straßenrand, wissen nicht wirklich, was der Plan ist, und nach gut einer halben Stunde auch die Frage, ob wir ihn richtig verstanden haben und wie wichtig eigentlich so ein Scheibenwischer im Sommer ist.
Wir sitzen weiter in der Sonne im Auto, beobachten die faulen Hunde, die sich auf dem kleinen Grünstreifen neben uns im Schatten wälzen, und warten.
Irgendwann kommt der Mann zurück, eine alte Maske im Gesicht, die wahrscheinlich eher für Schutz vor Spänen gemacht wurde. Ein Kranz kinnlanger, dünner weißer Haare auf dem Kopf, Vollbart. Er kommt zu uns, fragt, was genau das Problem ist. Drückt ein bisschen prüfend am Scheibenwischer, und geht wieder rein, das Tor bleibt offen. Zwei Bullis fahren raus, dann ist Platz für unser Auto. Wir fahren das erste Mal in seine Werkstatt, in drei Tagen ist die Sonnenfinsternis.
Er tauscht nicht aus, er repariert. Sagt er uns direkt zu Anfang und wir wissen nicht, ob es Warnung oder Information ist.
Sein Boxer Simón ist begeistert, dass neue Menschen da sind und kaut dann glücklich weiter an seinem Keilriemen.

Die Regale, die die komplette Werkstatt einschließen, vollgestopft mit für uns nicht zuordbaren Teilen bis unter die Decke. Ein Schreibtisch mit dicker Staubschicht, auf der ein alter Computer steht, der Bildschirm ein riesiger Kasten. Zwei Käfer, einer unlackiert unter Planen, der andere wie neu. Motoren und Motorteile eingespannt in Maschinen, die uns nichts sagen. Nur die Werkbank wirkt ordentlich und sortiert, kleine Schalen für Schrauben und dergleichen stehen bereit, dahinter Schraubschlüssel in allen Größen an der Wand. Ein kleiner Gaskocher steht daneben, ein zerbeulter Kessel dampft vor sich hin, der Emaille-Mate-Becher steht auf dem Tisch bereit.

Leider löst sich das Problem nicht direkt von selbst, eine leise und unwahrscheinliche Hoffnung hatten wir, dass nur eines der Kabel oder Sicherungen kaputt ist, aber alles muss raus. Der Motor für den Scheibenwischer versteckt hinter den Armaturen. Handschuhfach und das kaputte Radio liegen neben dem Auto, halb kniend, halb liegend montiert der Mechaniker das faustgroße Etwas heraus. Wir stehen als faszinierte Zuschauer neben ihn, probieren, nicht im Weg zu stehen, aber auch nichts zu verpassen.
Stück für Stück wird der kleine Motor geöffnet, jede Schraube fein säuberlich in die Schalen gelegt, ab und zu ein Griff nach hinten, um einen anderen Schraubenzieher von der Wand zu nehmen. Konzentriert arbeitet er, im Hintergrund läuft Radio, wenn wir mit unserem Spanisch alles richtig verstehen, ein linker Sender. Feminismus, Sexismus und über die seit einem Jahr immer intensiver werden Frauenrechtsbewegung. Bald steht eine entscheidende Abstimmung bevor, ob Abtreibung legalisiert werden soll. Wir verfolgen die Debatte, seitdem wir hier sind, seit acht Monaten.
Ab und zu schaut er hoch, wenn er gerade nicht weiter weiß. Dann zündet er sich eine Pfeife an, die einzige Voraussetzung für uns zum Zuschauen war, dass wir eine Maske tragen, damit er rauchen kann. Sonst klappt es nicht. Er macht den Gaskocher an und trinkt ein bisschen Mate. Wir erzählen ein bisschen vom Reisen, er von verschiedenen Reisenden, die im Laufe der Jahre bei ihm in der Werkstatt gelandet sind.
Einer steckte ein Jahr fest, hatte kein Geld und arbeitete dafür und am Ende lief sein Kombi, wie neu.
Irgendwann fällt uns auf, dass wir uns noch gar nicht vorgestellt haben.
Alberto.

Der Hund rennt immer mal wieder begeistert durch die Werkstatt und schleppt seinen Keilriemen mit oder liegt im Schatten unter den Autos. Albertos Tochter Naty, die auf der anderen Seite der Einfahrt lebt, bietet uns an, das Bad mitzubenutzen. Ema, ihre dreijährige Tochter beäugt uns hinter ihrer Maske.
Das Grundstück besteht vor allem aus der langen Einfahrt und Werkstatt, rechts ist der Eingang zu Albertos Häuschen, links kommt man zu Naty. In dem kleinen Gärtchen steht ein riesiges Planschbecken und ein paar Töpfe mit Kräutern und Blumen.

Alberto spricht für uns gut verständliches Spanisch, ist es gewohnt, dass die Kombibesitzer*innen, die bei ihm landen, (noch) nicht fließend Spanisch sprechen. Immer wieder hält er inne, um zu erklären, was er gerade macht, wie der kleine Motor funktioniert. Aufgeschraubt, deutlich zu sehen, ein metallener Stift ist abgebrochen, das Problem. Er geht los, um das Ersatzteil zu kaufen, und wir besprechen uns mit vorsichtiger Hoffnung, ob wir die Sonnenfinsternis ein paar hundert Kilometer weiter südlich vielleicht doch sehen. Morgen müssten wir dafür los, übermorgen bekommen wir es noch hin, wenn wir schnell fahren.
Alberto konnte den fehlenden Metallstift bekommen, nur leider eine Nummer zu groß und so wird in millimeterfeiner Handarbeit das Stück kleiner geschliffen. Brille auf und ein konzentrierter Blick, nach jedem Mal über dem Schleifpapier wird von Neuem vermessen, irgendwann ist er zufrieden. Mate und Pfeife, dann löten.
Ema traut sich immer näher zu uns und plötzlich holt sie Spielzeug für Spielzeug, kleine Figuren aus Piñatas vor-corona vergangener Geburtstage, zeigt es stolz, ich mache ein passendes Geräusch dazu oder nenne und lerne die Namen der kleinen Tiere, der Küchenutensilien oder Fahrzeuge, verbessere ein kleines bisschen mein Spanischvokabular, und sie freut sich immer mehr, immer schneller rennt sie rein und wieder raus zur Werkstatt, immer euphorischer präsentiert sie. Irgendwann wird es dunkel.

Und die Scheibenwischer bewegen sich.

Nur leider noch nicht richtig konfiguriert und, hat er ja bereits angekündigt, Alberto will nochmal in den Motor schauen. Für alle selbstverständlich schlafen wir in der Einfahrt, eine erste und – von uns geplant – einzige Nacht. Mal sehen.
Die Scheibenwischer lassen sich schnell fertig einrichten, wir starten den Motor und unser Mechaniker kommt mit einem langen Schlauch, hält ihn an den laufenden Motor, um auch uns das Geräusch begreifbar zu machen, das er auch ohne Hilfsmittel hört. Eine Mischung aus Knallen und Klappern, ja, es klingt wirklich nicht gut und jetzt können wir es auch so hören.
Ein Problem mit der Zylinderabdeckung. Tapa de cilindro. Oder so.
Und wir hören die erste von seinen vielen Geschichten, wo, wann und wie er mit Kombis liegen geblieben ist.
Sein Vater hatte die Werkstatt mit ersten VW-Werken in Argentinien gegründet, irgendwann in den 50ern, immer mit Kombis, also T2, und Käfer gearbeitet und auch immer gefahren. Und Alberto sein ganzes Leben lang. Da passiert wahrscheinlich alles, was einem T2 passieren kann und man kann zu jedem Problem eigene Erfahrungen schildern.
In dem Fall, wie auch sehr oft, auf dem Heimweg von einem Anglerausflug in der Provinz mit seiner Frau.

Es muss repariert werden, nur wann. Die Überlegung, ob wir die gut sechshundert Kilometer Hin- und Rückweg noch schaffen oder nicht. Auf keinen Fall wollen wir irgendwo liegen bleiben, keine Werkstatt in der Nähe, und falls doch, keine, die sich so gut mit Bullis auskennt. Zum anderen, eine total Sonnenfinsternis.
Aber schnell ist klar, mit unserem Auto trauen wir uns nicht mehr weiter, lobendes Nicken von Alberto.
Bien.

Wir mieten ein Auto für zwei Tage und fühlen uns erwachsen wie nie, als wir den Vertrag unterschreiben, unsere Kreditkarte überprüft wird und wir mit dem Auto tatsächlich losfahren. Es ist deutlich neuer als unser Auto, schneller und vor allem auch leiser. Wir ziehen an LKW vorbei, müssen plötzlich auf die Geschwindigkeitsbeschränkung achten, können aber laut Musik im Auto hören.
Die Landschaft flach wie immer in der Provinz Buenos Aires. Nicht mehr nur Mais- und Soja-Anbau, immer mehr Kuhherden, vereinzelte Flecken im hohen Gras, stehen auf den unendlich erscheinenden Weiden neben der Straße. Ab und zu ein Caracara, der Aas am Straßenrand isst und verschreckt und verärgert vor uns wegfliegt. Mal Gauchos auf Pferden, die wir überholen, eine Familie Ñandús, Laufvögel, mit vielen Jungen. Nachmittags kommen wir an, keine Polizeikontrollen an der Provinzgrenze nach Río Negro, selbst wenn, wir haben alle Genehmigungen ausgefüllt.

Am Campingplatz stellen wir seit langem mal wieder unser Zelt auf und spazieren durch den kleinen Ort, auf der Suche nach Brillen für die morgige Sonnenfinsternis.
Das Dorf liegt am Meer, ein paar Häuser, Restaurants, Cabañas zu vermieten. Und eine lange Schlange vor der Tourismusbehörde, schnell klar, dass hier Brillen verteilt werden. Kostenlos und für jede*n eine, überprüft durch die Eingabe ein paar personenbezogener Daten und einer kurzen Einweisung zum richtigen Gebrauch und den gesundheitlichen Risiken, ohne Brille in die Sonne zu gucken.
Der Verkauf ist nirgendwo gestattet.
Wir stehen brav in einer Schlange, die Polizei kontrolliert den Abstand und teilt nach knapp einer Stunde mit, dass für heute das kleine Büro zu macht, alles löst sich ohne großes Murren auf, auch wenn es für Argentinien noch recht früh ist. Gerade mal acht. Aber am nächsten Morgen wird wieder auf sein, dann hat man immer noch ein paar Stunden Zeit bis zur Finsternis.
Ein paar Empanadas und Bier zum Abendessen. Papageien setzen sich zum Schlafen auf die Stromleitungen in der Stadt.
Sommer.

Am nächsten Morgen geht es schnell, Verteilungstaktik wurde geändert und man bekommt Blockweise eine kurze Einweisung und die Brillen. Mit dem Auto fahren wir ein Stück aus dem Ort raus, eine schmale Küstenstraße entlang, neben uns die immer höher werdenden Felsen der Steilküste. Und hunderte von Autos. Neben der Straße stehen alle paar Meter ein Auto, ein paar Menschen, Blick Richtung Sonne.
Wir fühlen uns incognito, so ohne Kombi und mit einem argentinischen Kennzeichen, als wir uns mit viel Platz um uns herum mit abstellen, die Campingstühle aus dem Kofferraum holen und im stetigen Meereswind Mate trinken.
Angekommen in Argentinien.

Die Straße, die man mehrere Windungen in beide Richtungen sehen kann, begleitet von einer Stromleitung. Der Wetterbericht hat eine recht hohe Regenwahrscheinlichkeit vorhergesagt, eine geschlossene Wolkendecke versichert. Doch mit immer stärker werdenden Wind hat man plötzlich nur noch vereinzelte Fetzen, die über den Himmel ziehen.
Meeresrauschen, große Wellen, die laut krachend an die Felsen schlagen. Ein Seelöwe taucht in den Wellen, der erste, den wir so in freier Wildbahn sehen. Ein paar Kilometer weiter die größte Seelöwenkolonie Argentiniens.
Und tausende Felspapageien leben und nisten an den steinigen Wänden.
Ein lautes Vogelgeschrei, immer wieder ganz nah, wenn eine Gruppe über einen hinweg fliegt, die kurz darauf vom Wind zerstreut wird, die Klippen hinunter stürzen oder steil nach oben schnellen. Der Wind reißt an den Kleidern, man hört durch Tosen und Vogelgeschrei kaum die anderen Menschen. Der Blick zum Meer und man fühlt sich alleine.

Und natürlich der Blick zur Sonne. Mit der Brille erkennt man schon eine kleines, dunkles Stück, langsam aber stetig größer werdend. Wir sind mehr als eine Stunde früher angekommen, wollen möglichst lang alles beobachten, möglichst viel von den zwei Minuten tatsächliche Finsternis mitnehmen.

Eine immer größere Aufregung erfasst uns und gefühlt auch alle um uns herum. Immer wieder gehen wir die paar Meter vor zur Klippe, schauen in die unendlich wirkende Weite, lassen uns vom Wind zerstreuen und gehen zurück zum Auto. Immer mehr Sonne verschwindet, nur sichtbar mit der Brille. Alles andere ganz normal, die Vögel noch keine Ahnung und auch wir wissen nicht so wirklich, wie es werden sollen. Das Gefühl vor dem Rausch, unsicher, ob es tatsächlich klappen wird. Natürlich. Als ob wir die einzigen sind, die mit der Brille den immer größer werdenden, dunklen Fleck verfolgen können. Wir ein Geheimnis wissen, was den Augen eigentlich noch verborgen bleibt. Immer wieder blinzle ich kurz und schnell in die Sonne. Natürlich, soll man nicht machen, aber ich muss sehen, ob man auch so eine Änderung wahrnehmen kann.
Die Vögel ahnen immer noch nichts, fliegen laut kreischend, streitend und versöhnend, über uns herum, direkt an uns vorbei und die Aufregung in der Menschenmasse wird immer größer.
Alle mit Campingstühlen neben dem Auto, Mate und Brillen. Alle Gruppen für sich, aufgereiht an der langen Küstenstraße. Immer mehr Sonne verschwindet, wird von dem dunklen Kreis Mond verschluckt, der sich stetig und ungerührt weiter bewegt.

Auch beim Schreiben spüre ich wieder dieses Kribbeln, das meinen ganzen Körper erfasst hat, die ständigen Rücksprachen mit David im Kopf, ob er auch alles so sieht und wahrnimmt, was ich merke. Ist es real oder nur in meinem Kopf? Wie ein Kind.

Und plötzlich wird es merklich kälter und dunkler.
Ein schleichender Prozess, der plötzlich spürbar ist.
Als ob man einfach einen Helligkeitsregler herunterschrauben würde.
Kalt, wie wenn man sich plötzlich in einen Schatten bewegt hat, nur kommt der Schatten zu einem und allen anderen auch.
Mit der Brille sieht man nur noch eine schmale Sichel, mit bloßem Auge merkt man immer noch keinen Unterschied, was diese wahnsinnige Absurdität ausmacht.
Heller, sonniger Tag mit Wind und plötzlich, ja, wie schon gesagt, dunkler und kälter. Immer wieder frage ich David, ob er es auch sieht, auch merkt. Nein, ich bilde es mir nicht ein. Eine so deutliche Veränderung, alle spüren es. Auch die Papageien.

Jede Sekunde eine andere Stimmung.

Hunderte, tausende Vögel fliegen kreischend, rausgerissen aus ihrem Tag, zu ihren Schlafplätzen, der Stromleitung neben der Straße. Immer neue Gruppen setzen sich nebeneinander, der ganze sichtbare Bereich der Straße begleitet von Papageien-schweren Leitungen. Empörte Verwirrung, vielleicht dichten wir auch zu viel rein. Immer wieder der Blick zum Himmel, blinzelnd ohne Brille, mit Brille, zu den Vögeln, auf das stürmische Meer. Dämmerstimmung am helllichten Tag. Unheimlich und aufregend. Immer kleiner die Sonnensichel und ein kollektiver Ausruf des Erstaunens, ein langgezogener Laut aus Oooh und Aaah, rast die Küstenstraße auf uns zu, in der selben Sekunde ein letzter Fetzen, ein kurzes Blinzeln der Sonne und dann ein hauchdünner Ring aus Licht am dunklen Himmel. Mit der Brille sieht man nichts mehr, der Mond hat die Sonne gefressen, mit bloßem Auge eine atemraubende Stimmung.

Wie eine hellste Nacht, eine dunkelste Dämmerung.
Ein paar vereinzelte Papageien probieren noch einen Platz auf dem dicken Kabel zu bekommen. Alle Menschen schauen gebannt nach oben, ab und zu ein ungläubiger Blick zur Seite. Eine Stimmung, die ich gerne ewig halten würde, ein kollektives Ereignis, Gänsehaut am ganzen Körper, auch vom kalten Wind, der immer noch um uns tobt. Dauergrinsen, alles aufsaugen. Am liebsten die Zeit stoppen, um in dieser – wahrscheinlich einmaligen – Erfahrung anzukommen. Sie aufzunehmen, jedes Detail durch diesen Filter beobachten.

Wie unfassbar unglaublich.

Zwei kurze, lange Minuten.
Eine eigene Phase, dann wieder, ein Lichtblitz, ein Aufflackern der Sonne. Der perfekte Kreis durchbrochen, wieder eine Sichel, wieder alles zurück, größer werdende Sonne, Wärme und Licht kommen zurück, die Papageien, noch nicht eingeschlafen, nur bereit, lösen sich gruppenweise von ihrem Schlafplatz und stürzen sich wieder die steilen Klippen hinunter, schrauben sich nach oben, Gruppen vereinen sich und verteilen sich beim nächsten Windstoß. Immer noch in der Atmosphäre gefangen.

Erste Autos fahren los, wollen möglichst weit vorne sein auf dem einbahnigen Weg zurück in den Ort. Schnell ist alles gestaut. Wir haben Zeit, setzen uns auf unsere Campingstühle mit Blick zum Meer, ab und zu ein verstohlener Blick durch die Brille auf die Sonne. Tatsächlich, nicht rund, da fehlt was. Alles war real. Eine Erinnerung, belegt mit einem Adrenalinfilter, Rausch. Kurz danach der Kater. Müde, geschafft, übervoll mit Eindrücken. Wir bleiben noch sitzen, haben noch Zeit. Knapp ein Jahr Argentinien und kein Weiterkommen in Sicht.
Auch okay, alles okay.
Wird schon. Wir waren hier und hier ist gerade alles perfekt.