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Richtung Norden

Juli – August 2021

Alles um uns herum ist trocken und eingestaubt. Eine Nacht haben wir noch am Flussbett neben San Marcos Sierras verbracht, eine erste Nacht mit Hund unterwegs, alles noch grün und frisch – für Winter. Aber ein paar Meter neben den Fluss sind die wenigen Büsche und Bäumchen, die hier vorkommen, alle in einheits-braun-gelb, die Luft, die Erde, alles ist unfassbar trocken. Immer eingehüllt in einer Sandwolke und wir fangen in trostloser Landschaft ein paar erste, anstrengende Reisetage an.

Uns wurde wahnsinnig viel von den Nordprovinzen – Salta y Jujuy – vorgeschwärmt, Bilder gezeigt, Kontakte gegeben. Drei Monate haben wir Zeit, dann wollen wir uns wieder zusammen am Campo treffen. Endlich mal ein längeres Stück mit dem Auto unterwegs sein, die letzten Winter- und ersten Frühlingswochen weiter im Norden, im Warmen verbringen. Für Patagonien noch zu kalt, auch wenn es immer noch aussteht.

Wie immer müssen wir erst Geld holen, wie immer anstrengend.

In Argentinien gibt es eine wahnsinnig hohe Inflation, mehr als 50% im letzten Jahr, eine kaputte Wirtschaft und als eine der Folgen sind hier mehrere Wechselkurse entstanden. Um ein bisschen ein Gefühl dafür zu bekommen: Als wir angekommen sind, März 2020, war der offizielle Wechselkurs 1 Euro = 70 Pesos, unser inoffizielle = 90 Pesos.
Wir bekommen unser Geld über WesternUnion, Wechselstuben in verschiedensten Legalitätsstufen haben alle unterschiedliche Kurse. Immer höher als der offizielle, ganz verstehen wir es nicht, ehrlich gesagt, nicht mal ein bisschen und auch sonst niemand. Aber alles inoffizielle ist Dollar oder Euro blue.
Heute, Januar 2022, ist der offizielle Wechselkurs 1 Euro = 118 Pesos, Euro blue um die 250 Pesos.
Wenn wir Geld über die Bank abheben würden, würden wir den offiziellen Wechselkurs zahlen, nicht mehr als um die 40€ bei den meisten Automaten abheben können und 50% Gebühr zahlen.

Es rentiert sich also immer, eine WesternUnion-Filiale zu suchen.

Es gibt auch überraschend viele Filialen und in den letzten Monaten haben wir wahnsinnig viele besucht. Von großen Läden mit Schaltern und viel Fluktuation zu kleinen Kioscos, die neben dem Kühlschrank mit verschiedenen Zuckersprudelgetränken, einer Kühltheke mit Cremoso, Queso y Jamón de Máquina und ein paar staubigen Packungen Nudeln und Maisdosen auch noch Bargeldtransfer anbieten. Meist eher das zweitere. Und natürlich gibt es nicht immer genug Bargeld, sogar sehr oft. Wenn wir uns vornehmen Geld zu holen, haben wir immer im Kopf, dass es gut ein Tagesprojekt sein kann.

Und manchmal, so wie an unseren ersten Reisetagen, kommt natürlich alles zusammen. Normalerweise schauen wir, dass wir eine kleine Bargeldreserve haben, wir waren uns aber so sicher, zu sicher, dass die Läden, die wir seit Wochen regelmäßig zum Geld Holen nutzen auch heute Bargeld haben. Aber natürlich nicht. Quizás en la tarde, vielleicht am Nachmittag, wir wollen aber zumindest zum nächsten Ort, den wir noch nicht kennen. Auf dem Weg winkt uns die Polizei raus, die Kontrolle, die wir schon so oft passiert sind und wir sitzen leicht genervt, wartend, am Straßenrand. Viele Autos hinter uns, weitere werden rausgezogen, ein paar Polizist*innen stehen bei den einzelnen Autos, nur zu uns kommt niemand. Irgendwann fragen wir nach. Überrascht, dass wir noch nicht weiter sind, wird uns mitgeteilt, dass ein Scheinwerfer kaputt ist. Wir können aber weiter. Ganz ohne die Papiere zu kontrollieren, wie ungewohnt, aber gut. Heißt aber auch, auf unsere Liste an Sachen, die wir mehr oder weniger dringend tun sollten, kommt Elektromechaniker hinzu. Schon eher dringend, auf allen Bundesstraßen muss man mit Licht fahren.

Geld muss vor dem Mechaniker passieren, die nächste Möglichkeit ungefähr 70 km weit weg, dafür haben wir noch genug Tank, los. Als wir ankommen, nur ein kleiner Kiosco, die alte Frau macht sehr schnell klar, dass es hier nichts wird. Grundlegend, auch kein kleiner Betrag, muss man auch nicht ausprobieren. Meint sie. Also gut, weiter. Nochmal 50 km, aber alles hat zu, natürlich. Siesta. Es ist wahnsinnig heiß, der Ort unfassbar trostlos, die Landschaft ist nur flach und vertrocknet, ab und zu sind am Straßenrand unterschiedlich große, weiße Flecken. Ausgetrocknete Salzseen. Der erste noch etwas faszinierend, jetzt ist alles anstrengend.
Der Hund guckt etwas vorwurfsvoll. Wahrscheinlich bilden wir es uns nur ein. Wir sind genervt, fragen noch hoffnungsvoll bei der Post nach, die eigentlich auch Geldtransfer anbietet. Aber heute gibt es leider kein Geld. In fünf Stunden macht aber der kleine Laden auf, da sollten wir es doch probieren. Etwas missmutig, weiter können wir nicht, wir müssen davor auf jeden Fall tanken, warten wir am Park.
Lesend auf unseren Campingstühlen, es ist unangenehm heiß, beäugt von allen, die vorbeilaufen. Kein Ort für Tourist*innen, mit dem Park haben wir wahrscheinlich alles gesehen. Es zieht sich, irgendwann wird es voller, Menschen mit Mate setzen sich auf die Parkbänke, ein Luftballonverkäufer baut seinen Stand auf, eine Frau schiebt eine Popcorn-Maschine auf ein schattigen Platz. Siesta ist langsam vorbei, irgendwann macht der Laden auf. Gemütlich. Und irgendwann haben wir tatsächlich Geld. Maximal eine Stunde können wir noch fahren, bevor es zu dunkel ist, um mit immer noch kaputtem Licht zu fahren. Trotzdem möglichst schnell weg, auf den Ort haben wir keine Lust, auch wenn die Stimmung am frühen Abend deutlich angenehmer, netter und eigentlich wie gewohnt offen ist.

Ein paar Kilometer weiter, schon wieder, immer noch, nur noch die selbe, trockene Landschaft. Vielleicht ist doch der Winter nicht die beste Reisezeit, aber sobald wir auf die Karte schauen, wird uns wieder klar, wir sind hunderte Kilometer von den Nordprovinzen entfernt unterwegs, im Niemandsland. Vergessen immer wieder, wie riesig Argentinien ist. Unsicher, wo wir uns abstellen sollen, fahren wir immer noch ein Stück weiter. Keinerlei Sicht- oder Windschutz und gerade, als es uns so egal ist, dass wir uns einfach nur noch abstellen wollen, sehen wir Feuer. Am Straßenrand brennen irgendwelche Büsche, wir sehen ein paar Leute, scheint zu passieren, no pasa nada, wir wollen uns trotzdem nicht daneben stellen. Es ist dämmrig, wir finden einen Platz, ganz klar nur für eine Nacht. Am nächsten Morgen frühst möglich los, müssen aufpassen, nicht in irgendwelche Scherben oder Abfall zu treten. Die Straße voller Schlaglöcher, den paar Autos, die uns entgegenkommen, sieht man die Gegend an. Alles rostig, Schrottmühlen. Komisch, dass sie überhaupt noch fahren können. Ach Reiselust, wo bist du denn.

Vielleicht hätten wir uns ein bisschen mehr über die Strecke informieren sollen, uns erst überlegen, wohin wir wollen und nicht einfach undefiniert „nach Norden“. Natürlich ist bekannt, dass die Straßen hier schrecklich sind, kaum Orte und wenn nur verschlafene Pueblos, die Landschaft nicht sehenswert, wir probieren ihr wirklich was abzugewinnen. Wirklich. Aber es einfach nicht schön.

Inzwischen haben wir aber zumindest ein Ziel, La Rioja. Die Hauptstadt der nächsten Provinz, groß genug für einen Mechaniker und hoffentlich für ein paar andere Sachen von unserer Liste.
Ab und zu halten wir am Straßenrand, eigentlich sind wir aber zügig unterwegs. Zügig mit 30 Jahre altem Auto, dass nach einem kurzen Halt komische Geräusche macht. Es ist kein leiser Motor, natürlich nicht, aber irgendwie klingt es anders. Ich sag erstmal nichts, David sagt nichts. Das Geräusch wird vom Ignorieren nicht leiser, sondern lauter. Irgendwann frage ich vorsichtig nach, ob David es auch hört, leider habe ich es mir nicht eingebildet. Fuck. Anhalten, David steigt aus. Sagt erstmal nichts, guckt mich an. Da ist ein Loch. Ein Loch im Motor. Ich lache, er lacht. Ja, tatsächlich. Ein Loch. Und auch ein Funkloch. Und dann stehen wir da, etwas ratlos. Können unseren Mechaniker nicht anrufen, der normalerweise immer für uns da ist, und warten, auf irgendwas. Weiterfahren trauen wir uns nicht, können nicht wirklich einschätzen, was das Problem ist. Es ist auf jeden Fall ein Loch in einem Rohr zum Auspuff, was wahrscheinlich noch halbwegs okay ist, leider sind die paar wenigen Kabel, die in unserem Auto verbaut sind, über dem Loch und angeschmolzen. Was wahrscheinlich weniger okay ist.

Ein Auto fährt vorbei und hält nicht, das nächste auch nicht und es ist hier alles andere als befahren. Irgendwann binden wir die Kabel noch ein Stück weiter hoch, fahren ein paar Meter, schauen in den Motor, alles unverändert, wieder ein paar Meter, heiß und unverändert. Immer noch kein Netz. Wir sind uns unsicher, wollen es nicht schlimmer machen. Ein Auto hält, der Mann steigt aus, ein Blick, ah, no pasa nada! Und fährt weg. Wir sind perplex.

Hassliebe zu ‚no pasa nada‘. Für uns unfassbar argentinisch, irgendwo zwischen passiert nichts und alles gut. Sehr oft lieben wir diese Einstellung, Entspanntheit, nur macht uns wenig so wütend, wie wenn es die Lösung für alles sein soll. Manchmal ist halt doch einfach was doof und no pasa nada einfach nur zynisch.

Wir beschließen weiterzufahren, wissen nicht, was wir sonst tun sollen, als ein Auto hinter uns hupend zum Stehen kommt. Der Mann ist wahnsinnig lieb, bietet an, langsam hinter uns her zu fahren und falls wir uns nicht mehr weiter trauen und falls irgendwas schlimmer wird, uns abzuschleppen. Sein no pasa nada gibt uns wieder Ruhe. Wir passieren die Provinzgrenze, nichts sieht anders aus, nur die Straße ab dem Punkt neu asphaltiert, ein großes Schild Bienvenidos a La Rioja.
Ein paar Kilometer weiter, langsam wieder vereinzelte Häuschen am Straßenrand, die Stadt verdichtet sich Stück für Stück vor uns. Eine Polizeikontrolle und wir halten an, der Mann, der uns begleitet hat, verabschiedet sich und wir stehen vor einem großen Schild mit Einlassbestimmungen in die Provinz, deren Grenze wir schon vor einigen Kilometern überquert haben. La Rioja ist aber die erste große Stadt auf dieser Straße, also ist hier der Stopp. Die Polizist*innen sind freundlich, distanziert.
Man braucht einen PCR-Test oder mindestens die erste Impfung, um sich in der Stadt aufzuhalten, was wir beides nicht haben. Leider gibt es hier auch vor der Kontrolle keine Teststation, wir wollten ja auch gar nicht in die Stadt, sondern die Provinz nur durchqueren. Das wäre ohne Auflagen gegangen. Vor-Loch-im-Motor-Plan.

Wir erklären unsere Situation, steigen aus, öffnen den Motor, inzwischen sind alle Polizist*innen bei uns, wenn ein anderes Auto kommt, löst sich eine*r aus der Gruppe, kommt dann schnell wieder zurück. Der Mann, der die Kontrolle bei uns macht, ist inzwischen am Telefon, irgendwer, der*die uns die entsprechende Erlaubnis geben könnte, Anweisungen macht. Immer wieder stellt er uns Fragen, gibt Informationen weiter. Sí, Alemania. Lachend, sí, 2014 1:0. Die Stimmung immer lockerer, wir sind zwar immer noch ein bisschen perplex, dass da plötzlich ein Loch ist, aber hier haben wir jetzt schon so oft no pasa nada gehört, dass wir fast tiefenentspannt sind. Irgendwann fragt der Polizist, ob wir Geld dabei haben. Erst schauen wir verwirrt, dann nochmal dinero, cash. Leise frage ich David, ob er dasselbe verstanden hat, und wir schauen danach den Polizisten weiter verwirrt an, ja, Geld haben wir schon… Ein bisschen aufregend, erleben wir gerade das erste Mal bewusst Bestechung?
Er bricht plötzlich in Lachen aus, versteht unsere verwirrten Gesichter und klärt auf, er organisiert schon parallel einen Mechaniker, ob wir den dann bezahlen könnten. Gut, wahrscheinlich besser so und, ja, natürlich!
Wir stellen uns in den kleinen Schattenfleck neben der Kontrolle, wahrscheinlich normalerweise ein LKW-Rastplatz. Stück für Stück werden unsere Daten aufgenommen, Fotos gemacht, wir bekommen einen Zettel, dass wir weiter dürfen und warten auf den Mechaniker. Ein Auto kommt zu uns, zwei Männer sitzen drin und wir fahren ihnen hinterher in das Zentrum, stellen das Auto ab, tauschen WhatsApp-Nummern aus und suchen uns Essen. Die Stadt ist uns sofort sympathisch, wir haben einen entspannten Mittag und holen am frühen Nachmittag das Auto. Der Staub der letzten Tage weggeputzt, das Loch geflickt, der Motor sieht wieder wie ein guter, alter Motor aus.

Eine Nacht am Campingplatz, am nächsten Tag noch ausstehende Besorgungen und mit einer docena Empanadas weiter zu einem See, den wir auf der Karte entdeckt haben. In ein paar Jahren ist er wahrscheinlich mit Campingplätzen und Restaurants ausgestattet, momentan nur ein paar kleine Plätze zum Parken und ein alter Fischereiclub am Ufer. Der Wind kommt böenweise über den See gepeitscht, es wird zu kalt und wir suchen uns einen anderen Schlafplatz. Zwar mit weniger schönem Blick, aber nicht ganz so kalt.

Ein paar Orte weiter bekommen wir endlich unsere erste Impfung, überraschend problemlos und liegen dann erst einmal flach. Während man in der Provinz Córdoba undurchsichtige Anmeldeprozesse vor der Impfung machen muss, die dann auch nicht unbedingt zum Erfolg führen, haben wir in Villa Union einfach im Krankenhaus nachgefragt, uns in eine Warteschlange gestellt und waren geimpft. Ein paar Tage Hotel, dann wieder mit dem Auto nach Norden.

Am Straßenrand ändern sich die kleinen Verkaufsstände. In Córdoba gab es vor allem Käse, Ziegenkäse, Oliven, Dulce de Leche, hier gewebte Ponchos und eingelegtes Lamafleisch. Endlich haben wir wieder das Gefühl unterwegs zu sein. In der immer noch vertrockneten Landschaft tauchen vereinzelt Kakteen auf, wir sind auf dem Weg nach Tucumán, einen Freund von einem Freund besuchen, eine neue Provinz kennenlernen. Noch eine Nacht in einem staubigen, kleinen Ort. David bereitet am nächsten Morgen das Auto vor, ich gehe derweil mit dem Hund raus, spaziere durch die Nachbarschaft vom Campingplatz, ein Stück weg, alles wie immer.
Ein Hund, ein großer Hund, wahrscheinlich irgendein Doggentier, kommt ohne Knurren oder Bellen auf mich und den Hund zugerannt, greift an. Unterstützt von mehreren Hunden. Schreiend, um mich schlagend, plötzlich am Boden liegen, scheiß Ohnmachtsgefühl. Die Hunde interessieren meine Schläge nicht. Unser Hund ist weg, ich liege im Staub, mein Bein blutet von mehreren Bissen. Der große Hund wieder verschwunden, die kleineren auf Abstand. Komische Realitätsferne. Ein kleines Mädchen zieht ihren Vater auf die Terrasse, er fragt, ob er den Krankenwagen rufen soll. Mein Spanisch ist weg, ich schüttele nur den Kopf, habe für die kleine Runde natürlich auch kein Handy dabei. Will nur weg, panische Blicke, wo unser Tier abgeblieben ist. Ohne Zeitgefühl, aber irgendwann wieder mit Hund, stolpernd zurück zum Campingplatz.
David drängt mich, ins Krankenhaus zu gehen, wahrscheinlich war das auch klug, ganz sicher, nur ich wäre am liebsten sofort weg. Die private Klinik, bei der wir es als erstes probieren, schickt uns weiter und wir gehen in ein öffentliches Krankenhaus. Immer noch ein bisschen überfordert fragen wir uns durch und kommen überraschend schnell auch dran. Alles sieht etwas runtergekommen aus, in den Ecken Papiertüten von Medikamentenspenden. Alles aus der Zeit gefallen, wahrscheinlich seit mehreren Jahrzehnten in Benutzung. Die Ärztin aber wahnsinnig lieb, reinigt und desinfiziert die Wunden, schaut, ob meine Tetanusimpfung noch aktuell ist, dann humpelnd zurück zum Auto. Hier ist das Gesundheitssystem kostenlos.

Jetzt können wir los.

Und wieder habe ich vorab nur kurz auf die Karte geschaut, eine kurvige Straße, nicht allzu lang, irgendwo in der Mitte ist die Provinzgrenze Catamarca – Tucumán.
Ein Polizist lässt uns halten, wir werden nach unserer geplanten Route gefragt, falls wir nicht irgendwann eine weitere Kontrolle passieren, würde irgendwann nach uns gesucht werden. Verstehen wir zumindest so. Noch können wir nicht einschätzen, ob wegen Corona oder etwas anderem. Die Straße stellt sich relativ schnell als ein nicht asphaltierter, staubiger, enger Bergpass heraus und wir ziehen langsam und ohne Servolenkung den Berg nach oben. Wahrscheinlich wurde auch eher wegen unserer Sicherheit gefragt, dass wir nicht irgendwann im Berg verloren gehen, als wegen der Pandemie.

Der Ausblick ist wahnsinnig beeindruckend, zu einer Seite steile Felswände, zur anderen tiefe Hänge. Jetzt zoome ich nochmal näher in die Karte, die Straße ein Fleck an komplett unübersichtlichen, aneinander gefalteten Kurven. Mit Höhenlinien ergibt es Sinn, zum Glück haben wir noch vollgetankt und einen Ersatzkanister auf dem Dach. Und es ist kaum befahren. Es gibt wenige Ausweichmöglichkeiten auf der Strecke, die Straße auch nicht breiter als ein Auto und vielleicht ein Esel oder eine Kuh. Ab und zu, wenn wir das Gefühl haben, von allen Seiten sehr einsichtig zu sein, halten wir an, steigen aus und lassen diese wahnsinnig weite Landschaft auf uns wirken.
Die schon geschafften Kurven schlängeln sich unter uns, über uns, bei benachbarten Bergkuppen und alles ist nur eine Straße. Weg, den wir schon gemacht haben und welcher, der noch vor uns liegt. Immer noch alles in Beige-Tönen, nur immer felsiger, weniger Sand und Staub. Kakteen stehen wie platziert um uns herum, nur noch vereinzelt stehen vom Wind verknotete Bäume am Rand, Büsche, stachelig trockene Gräser.
Die Luft ist dünn, windig, auch hier alles noch wintervertrocknet und trotzdem sind wir von unserer Umgebung gebannt, machen uns nach jeder Kurve, nach jeder Berg- und Hügelkuppe auf Felsen, Kakteen, die Straße aufmerksam. Je weiter und höher wir kommen, desto mehr blau in unserem Blick. Ein wolkenloser Himmel, davor Bergsilhouetten in Blauschattierungen einer ausbleichenden Postkarte. Alles ein bisschen verwaschen und wir sind überdreht, es fühlt sich so richtig nach Unterwegssein an.

Langsam wird um uns herum alles flach, auch wenn wir immer noch kein einziges Mal nach unten gefahren sind. Keine Bäume, nur vom Wind schrägstehende Grasbüschel. Erste Zäune, Kuhherden, ein paar kleine, zusammengeschusterte Häuschen. Immer noch blaue Bergkuppen im Hintergrund. Dorf und Provinzgrenze.
Die Polizei fragt, wo wir hin wollen, San Miguel de Tucumán, und wir bekommen nach einem Gesundheitscheck einen Sticker auf die Türen geklebt, sind versiegelt im Auto. Alles um uns herum ist noch immer unwirklich, das Leben hier nur schwer nachvollziehbar. Ständiger Wind, abgeschnitten, eine kleine Dorfschule, ein paar Kioscos, sehr viel mehr sehen wir nicht. Es ist kühl, trotz praller Sonne. Wären wir nicht im Auto eingesperrt, wären wir wahrscheinlich nach Minuten sonnenverbrannt. Das Örtchen löst sich langsam wieder auf, eine weitere Polizeikontrolle, wieder werden wir in ein Provinzsystem eingetragen, diesmal von Tucumán.

Und langsam geht es bergabwärts und alles um uns herum sieht anders aus. Von der trockenen Landschaft, von den Gelb-Braun-Tönen, den blass bis strahlend blauen Himmel, an den wir uns die letzten Wochen und Monate gewöhnt haben, zu neuen, dunkleren, satteren Blautönen. Hier hängen die Wolken fest, wir durchqueren sie auf dem Weg nach unten, immer noch kurvig, aber nicht mehr staubig. Eine Feuchtigkeit liegt in der Luft, nicht schwül, der Berg plötzlich erfrischend. Kein unendlich weiter Blick mehr, um uns herum Bäume und Hänge. Die Bäume sind Blattlos, alles sieht aus wie eine Videospiel-Moorlandschaft. An den dunklen, feuchten Skeletten der Bäume hängen moosähnliche Pflanzen, die aussehen, als ob man die Äste durch einen veralgten Teich gezogen hätte. Gespenstische, blassgelbe und dunkelgrüne Vorhänge. Immer wieder kreuzen Kühe unseren Weg, die immer noch nicht asphaltierte Straße. Immer noch kurvig, aber so anders, dass wir uns immer wieder aufgeregt darauf aufmerksam machen. Es riecht anders, es fühlt sich anders an. Gesünder als die Trockenheit. Ab und zu eine kleine Quelle im Berg, ab und zu wird die Straße durch ein schmales Rinnsal durchbrochen, Kühe schauen uns hinterher, keine Zäune. Am frühen Abend kommen wir an einem Campingplatz an, mitten in diesem Regenwald. Die Bäume überragen uns inzwischen, alles voll Moos, ein Fluss im Hintergrund. Wir brechen das Siegel auf, auch wenn keine weitere Kontrolle gekommen ist. Ich komme mit dick angeschwollenem Fuß nur humpelnd vorwärts, traue mich nicht, über die nassen Steine zu klettern und bleibe häkelnd in Autonähe, während David mit Hund den riesigen Campingplatz, der irgendwann in Naturschutzgebiet übergeht, anschaut.

Am nächsten Tag noch ein paar weitere Stunden Fahrt bis zu Ariel, der Freund von unseren Freunden der nach den Tagen, die wir bei ihm sind, auch ein Freund ist. Am Wegesrand werden kiloweise verschiedene Beeren und anderes Obst verkauft, alles ist grün und fruchtbar. Wir werden in den nächsten Tagen noch oft hören, dass Tucumán der Garten Argentiniens sei, hier wird vor allem Obst und Gemüse produziert. In der kleinsten Provinz ist es ganzjährig grün. Eingekesselt von Bergen, geschützt von der Trockenheit der benachbarten Provinzen. Wir sind fasziniert und trotzdem wird uns von allen Seiten gesagt, wie trocken es hier momentan ist. Natürlich haben wir keinerlei Vergleichswerte, für uns wie ein paradiesischer Garten. Eigentlich wollten wir nur eine Nacht bei Ariel bleiben, vielleicht zwei, wir bleiben fast eine Woche. Jeden Abend sitzen wir mit Wein oder Bier, aber immer mit wahnsinnig gutem Essen, zusammen und planen jedes Mal irgendwann in der Mitte der Nacht, noch einen weiteren Tag zu bleiben, um nochmal dieses oder jenes zu kochen, bekocht zu werden, zu probieren. Dem Fuß tut es gut, dass wir nicht viel unterwegs sind, und als wir aus Tucumán losfahren, kann ich schon wieder rumspazieren.

Wieder über die Berge zurück, doch diesmal nicht über die Straße, die wir gekommen sind, sondern ein paar Kilometer weiter nördlich über Tafí del Valle. Eine asphaltierte Straße, auch ein paar Kurven, aber nicht mehr als ein paar. Natürlich ist auch deutlich mehr los, eigentlich fährt man hier entlang, wenn man von einer der an den Anden liegenden Provinzen nach Tucumán möchte. Weniger beeindruckend, aber deutlich angenehmer. Eine Nacht an einem See, ein paar Tische und Bänke. Nachts ein sternenklarer Himmel und ein paar Lichter in den Häusern vom Dorf auf der anderen Seeseite.

Alles wird wieder trockener, sobald wir auf der anderen Seite des Sees langsam bergabwärts fahren. Wieder einmal sind wir auf der Ruta 40, die Straße, die an den Anden vom südlichsten Punkt bis zum nördlichsten Argentiniens verläuft, und dafür, wie präsent sie bei Reisenden in den Amerikas ist, in einem überraschend schlechten Zustand ist. Erst kommt uns die trockene Landschaft wieder vertraut vor, dann ändern sich in den nächsten Kilometern und Tagen die Felsformationen zu noch nie gesehenen Gebilden. Geschichtete Felsen, die aus der Erde ragen, sie nach oben stapeln, mit Rot- und Gelb-Tönen ein für uns noch nie gesehenes Formenlabyrinth bilden. Wir sind in Salta und verstehen die Schwärmereien. Mal sind die Berge einfach nur spitz und kantig, dann wieder weich ausgespült, wie vertrocknete, riesige Korallenformationen mit staubigen Felsfarbschichten, mal rot, blau, grün. Ab und zu im Hintergrund schneebedeckte Andengipfel, 5000 m und mehr. Wir sind nicht so hoch. Zwischen den Felsen, Hügeln und Bergen ab und zu stundenlang nur Geröll, dann wieder ein schmaler Bach und drum herum kleine, grüne Wiesen, auf der Pferde, Ziegen und Kühe grasen. Die Straße ist schrecklich, enge Kurven, alles voller Schlaglöcher und Geröll, und wir schwanken zwischen wahnsinniger Frustration, und dieser unglaublichen Faszination für die Welt um uns herum.

Durch Cafayate, Weinanbau, Bodegas, und Ziegenkäse, bis Cachi. Mal wieder auf einem Campingplatz, duschen und waschen, ein paar gemütliche Tage.

Wir treffen einen anderen Reisenden, der mit dem Motorrad unterwegs ist und uns sehr klar davon abrät, weiter die Ruta 40 zu fahren. Es ist immer noch Winter, auch wenn sich für uns die Temperaturen tagsüber nach Sommer anfühlen, aber das ist ja schon recht lange so. Wenn wir die Ruta 40 weiterfahren würden, könnten wir zwar noch mehr Felsen sehen, wären aber irgendwann auch zwischen 3000 und 6000 Metern hoch und würden durch Schnee fahren. Abgesehen davon, dass er auch lange mit einem Kombi unterwegs war und die Straße, wenn überhaupt im Sommer und eigentlich überhaupt nicht fahren würde.

Wir verstauen uns und machen uns wieder auf den Weg, befolgen natürlich den Ratschlag und fahren Richtung Provinzhauptstadt Salta, auch wenn wir nicht so große Lust auf Stadt haben. Ein kleines Dorf noch, über eine Brücke und Richtung Berg. Hinter uns türmen sich die Anden, um uns flache Weite mit einzelnen Kakteen, vor uns eine eher hügelige Bergkette, in die die schnurgerade Straße entlang geht, die direkt nach Salta führt. Eine leichte, aber stetige Steigung, das Auto zieht immer weniger, wir mit der gemütlichen Reisegeschwindigkeit in die Landschaft vertieft und werden langsamer und langsamer und der Motor ist aus und wir rollen und wir stehen an einem Aussichtspunkt am Straßenrand und stehen und der Motor springt nicht mehr an.

Das Auto ist kaputt und wir geben es auf, haben keine Lust mehr. Schrauben die Nummernschilder ab, gießen das restliche Benzin über das Auto, zünden es an und laufen, mit einer Explosion im Rücken, in diese unendlich schöne Landschaft und verschwinden.

Emotional ja, machen wir natürlich nicht. Scheiße.
Das einzige, das stimmt, wir geben das Auto auf. Zumindest die Hoffnung, mit dem Auto noch weiterreisen zu können, über Landesgrenzen, sobald es wieder möglich ist. Auch wenn der Kombi auf geraden Straßen sicher nochmal funktionieren wird, für die Anden haben wir das Vertrauen verloren. Aber wie sich eine Weiterreise in mehreren Monaten gestalten soll, ist denkbar weit weg und nach anfänglicher Schockstarre stellen wir uns an den Straßenrand und probieren ein Auto anzuhalten. Hier sind relativ viele Tourist*innen in kleinen Mietautos unterwegs, wir haben es mehr auf die sehr robusten Pick-Ups mit Anhängerkuppel der Ortsansässigen abgesehen. Der Pick-Up, den wir zum Anhalten bewegen wollen, fährt allerdings an uns vorbei und stattdessen hält ein vollgestopftes Mietauto an.

Zwei Familien mit Kindern, nur ein bisschen jünger als wir, steigen aus, alle kommen aus Buenos Aires und sind hier für eine Woche Salta und Jujuy. Hinflug, Mietauto, Rückflug. Wir quatschen ein bisschen, auch wenn wir nicht wirklich zu Smalltalk aufgelegt sind, gehört irgendwie dazu. Ein grober Überblick über unsere bisherige Reise, ein, zwei Anekdoten, während David mit einem der Männer, er ist Autohändler in Buenos Aires, über die Möglichkeiten redet, was wir tun könnten. Sie lehnen von Anfang an entschuldigend ab, uns abzuschleppen, haben Angst vor einem Auffahrunfall am Mietauto, falls irgendwas nicht klappt, bieten uns aber an, einen Auxilio, einen Abschleppdienst, zu organisieren. Was wir natürlich annehmen, auch wenn wir am liebsten direkt mit weg wollen würden.
Und dann, für uns nicht ganz ersichtlich, stimmen sie doch zu, uns abzuschleppen. Wir haben ja alle nötigen Seile dabei, dafür ist unser Kombi Oma Lotte ausgestattet. Und zurück, die leicht abfallende Straße, Motiv von ein paar Videos, die durch das Fenster des Autos vor uns gemacht werden.
Die Stimmung bei uns unwirklich.

Zurück, diesmal die Anden vor uns, über die Brücke, an dem kleinen Dorf vorbei zum nicht viel größeren Cachi. Sie signalisieren uns kurz zu warten, organisieren Adresse und Telefonnummer vom einzigen Mechaniker, der leider erst am frühen Abend zurückkommt und ziehen uns noch bis vor die Tür. Wir bedanken uns, tauschen Telefonnummern aus, sitzen erstmal ratlos im Auto und beschließen dann, wie immer als Übersprungshandlung, Essen zu gehen. In der Sekunde bekommen wir nochmal eine Nachricht von der Familie, die uns einlädt, mit in ein Restaurant zu kommen. Da wir eh nicht wirklich was anderes vorhaben und Ablenkung toll ist und die Menschen lieb, sitzen wir mit denen noch ein paar Stunden gemütlich zusammen, essen und trinken Wein. Trotzdem ist es immer noch früher Nachmittag, als sie weiterfahren und wir zurück in die kleine Seitenstraße gehen, in der unser Auto steht.

Gegenüber ist ein kleines Hotel, und da wir nicht so naiv sind zu glauben, der Mechaniker könne das Problem, wenn überhaupt, heute lösen, fragen wir nach einem Zimmer. Uns wird gesagt, dass alles voll sei, ausgebucht seit Wochen. Der Mitarbeiter schaut trotzdem nochmal kurz in sein System und hat, für ihn überraschend, noch ein Zimmer frei. Nehmen wir sofort und sind an einem wunderschönen Ort. Eines der schönsten Häuser, die wir in Argentinien bisher gesehen haben, die Decken aus offenen Balken aus den Stämmen der Kakteen, die mit ihrer löchrigen Struktur ein wahnsinniges Muster bilden. Kühle Wände, weiß verputzter Lehm. Leinen und Holz. No pasa nada, wir bekommen frisch gepressten Orangensaft und warten auf den Mechaniker.
Der kommt auch irgendwann, macht uns aber sofort klar, wenn wir es irgendwie nach Salta schaffen, sollen wir das machen. Er hat hier keine Ersatzteile und auch noch nie mit so einem Motor gearbeitet. Und rät uns gleichzeitig stark davon ab, es aus eigenem Antrieb zu probieren, es scheint wieder ein schwierigeres Problem, nichts anderes haben wir erwartet Wahrscheinlich die Sachen, die wir nicht vor einem halben Jahr in Bahía Blanca ausgetauscht haben.

Zum Glück ist hier wirklich ein sehr gutes Weinanbaugebiet und wir verbringen die Nacht mit Torrontés auf dem Zimmer.

Am nächsten Morgen bekommen wir von Silvio, dem Hotelbesitzer, ein köstliches Frühstück, den besten Kaffee, den wir seit Monaten getrunken haben, und würden am liebsten noch eine Nacht bleiben, doch diesmal sind die drei Zimmer wirklich ausgebucht. Wir wissen nicht, wo wir ansetzen sollen und gehen zur Tourist*inneninformation, um irgendwie eine Nummer zu bekommen, wie wir mit Auto nach Salta kommen könnten. Selbst können wir gerade wenig rausbekommen, im Berg gibt es so gut wie keinen Empfang. Die Frau ruft den Bürgermeister an und gemeinsam überlegen sie, was es für Möglichkeiten geben könnte, vielleicht mit einem Gemüselieferanten auf der Ladefläche?

Die Vorschläge laufen alle leider ins Leere und wir gehen zurück Richtung Hotel und Auto, und wissen immer noch nicht wirklich was mit uns anzufangen. Wir fragen nochmal Silvio nach Rat, und er fängt sofort an alles stehen und liegen zu lassen und sich vor das Telefon zu setzen. Er hat eh nicht wirklich was zu tun, wir sind noch gut im Siesta-Loch, bevor irgendwer ankommt und die Zimmer bereits gemacht, betont er immer wieder, lädt uns auf immer noch köstlichen Kaffee ein und telefoniert knapp vier Stunden, da das Netz immer wieder abbricht. Warteschleifen von Versicherung und Abschleppdiensten. Silvio ist großartig, wir beide ein bisschen verliebt und am Ende hat er tatsächlich einen leistbaren Auxilio organisiert, der uns am selben Abend abholen kommt. Mehrere Stunden Anfahrt durch den Berg.
Noch einmal Geld holen.
Am frühen Abend winken wir zum Abschied aus dem Kombi auf der Ladefläche.