
Bei jedem Telefonat, das wir im Schatten der Orangenbäume führen, kommt das Gespräch irgendwann auf die andauernde, auf- und abschwellende Geräuschkulisse, die wir mit der Zeit als gegeben hinnehmen. Mehrere hundert Hektar Farm, wir dürfen uns abstellen auf der grünen Insel voller Bäume, die das Zentrum des Geländes ist. Im ehemaligen Arbeiterhaus ein Bad und eine Küche, die wir verwenden können – wir sind alleine, bis auf den Argentinier, der seit dreißig Jahren die parkähnliche Insel pflegt, bewohnt von seinen Tieren, den Schafen, Hühnern, Enten und Truthähnen sowie tausenden wilden Vögeln.
Ab und zu sehen wir auf einem der quadratkilometergroßen Felder Landwirtschaftsflotten arbeiten, Maschinenkolonnen ziehen über die Fläche. Eineinhalb Monate erleben wir das Campo.


Frühling wird Sommer, in den ersten Tagen sind die Vögel noch mit Balz und Nestbau beschäftigt, mit der Zeit kommen immer mehr Jungvögel und ein paar Chimangos werden von uns bei Flugstunden und ersten Flugversuchen beobachten.


Unsere Tage gestalten sich sehr ähnlich, immer wieder versinken wir in einfachen Beobachtungen, die beiden Hunde um Aufmerksamkeit heischend in der Nähe. Tauben und Papageien feilschen lautstark um die perfekten Ästchen für den Nestbau. Elegante, langhalsige und langbeinige Vögel kommen dazu und gewinnen immer, schnappen sich das Material und bauen in den Bäumen über dem Auto ein Nest. Ein wunderschöner Ort zum Feststecken.
Morgens noch mit offener Klappe im Auto liegen, Tierfamilien mit immer mehr Küken laufen an uns vorbei, Gänsemarsch und wuselige Entenhaufen.

Die Sonne geht um kurz nach fünf auf, die Hähne begrüßen sich und den Tag laut schreiend, die Felder gerade bis zum Horizont, fast wie am Meer. Alles noch in Nebel getaucht, mein Schlafrhythmus passt sich mehr und mehr dem Tageslicht an. Genau so schnell, wie es morgens hell wird, verschwindet die Sonne abends, mal mit großem Sonnenuntergang, mal unauffällig. Unendlich weiter Sternenhimmel erstreckt sich über uns. An wolkenlosen Neumondnächten hat man das Gefühl, das Maximum an sichtbaren Sternen erreicht zu haben. Nur ganz hinten auf der Horizontlinie ein paar kleine Punkte, genau so hell und groß wie die Sterne, ein paar Häuser. Wir sitzen auf den Campingstühlen, starren in die Nacht, trinken noch ein Glas Wein und lauschen den immer lauter werdenden Grillen, die die Vögel abgelöst haben. Und irgendwann blinkt ein Glühwürmchen, größer als die, die wir aus Deutschland kennen, vor uns auf. Blinkt, erlischt wieder. Fasziniert beobachten und suchen wir es mit seinem unregelmäßigen Leuchten und Flackern. Und stellen irgendwann fest, das alles um uns herum angefangen hat zu blinken, hunderte, tausende Glühwürmchen fliegen zwischen den Bäumen und auf den kilometerweiten Feldern. Wie eine bewegte Masse an Sternen zwischen uns und dem noch mondlosen Himmel. Müde verkriechen wir uns im Auto öffnen noch einmal die Klappe, um die kleinen, blinkenden Tiere zu beobachten und ein riesiger, orange-roter Mond geht auf. Gebannt beobachtend, und irgendwann dann doch schlafend.

Wir haben den Wetterbericht immer im Blick. Wenn es regnet, weichen die sonst staubtrockenen Feldwege, die mehrere Kilometer vom Campo zur befestigten Straße führen, auf und trocknen erst im Laufe der nächsten zwei, drei Tage wieder soweit, dass wir uns mit unserem Kombi nach draußen wagen können. Die Pickup-Trucks mit Vierradantrieb fahren schon früher, hinterlassen tiefe Rillen im noch weichen Boden, fest getrocknet für uns zu umfahrende Hindernisse.
Die meisten Tage sind sonnige Sommertage, wir verbringen die meiste Zeit draußen, haben einen Lieblingsplatz, wo immer irgendwo Schatten ist und drehen abends noch eine Runde um eines der Felder, ein immer gleicher vier Kilometer Spaziergang.
Vier angesagte Regentage und wir igeln uns ein. Im Haus haben wir ein Wohnzimmer eingerichtet, schlagen das Zelt im Nachbarraum auf und parken das Auto nah am Haus. Immer wieder kurze, kräftige Regenschauer, den ganzen Tag lesend und in Wollsocken gepackt. Wir sind niedrigere Temperaturen nicht mehr gewohnt, sonnenverwöhnt.
Der Wind wird immer heftiger, draußen ist es stockfinster, nur Blitze erhellen immer wieder die stürmische Landschaft. Donner kommt immer näher, eine neue, beängstigende Kulisse. In den letzten Monaten haben wir viele verschiedene Horrorgeschichten über Unwetter in Argentinien gehört, vor allem um San Rafael herum. Von immensen jährlichen Ernteeinbußen aufgrund von Hagel- und Sturmschäden. Wir haben Angst um die Tiere, die überall frei auf dem Grundstück leben. Die Hühner klettern abends unter lautem Gackern eine an einen Baum gelehnte, schiefe Metallleiter hoch, um sich die Nacht über in den Ästen Schutz zu suchen, die Glucken liegen in windgeschützten Ecken, die Schafe drängen sich unter die Bäume an der anderen Seite des Parks. Und wir liegen in Schlafsäcke gerollt auf dem Sofa. Die Geräusche werden lauter, schwellen immer weiter an und immer, wenn wir erwarten, dass jetzt der Höhepunkt erreicht sein müsste, dass wir das Unwetter überstanden haben, wird es nur noch lauter. Irgendwann, eigentlich würden wir schon schlafen, wenn wir uns überwinden könnten, die paar Meter durch den windigen Regen zum Bad zu laufen.
Ein erstmal nicht zuzuordnendes Tosen kommt auf uns zu, eine Welle, die nicht am Strand abschwillt, immer lauter. Es ist Hagel. Mit einer unfassbaren Lautstärke erreicht der Hagel Wasserturm, Auto und dann unser Haus. In den leeren Zimmern hallen die Schläge auf dem Wellblech um uns. Immer größere Körner prasseln auf uns nieder, wir leuchten mit einer Taschenlampe einen dünnen Kegel nach draußen, wollen wissen, wie gefährlich es ist, Geschichten von tennisballgroßen Eisklumpen im Kopf, auch wenn es diese eher im Herbst als im Frühling geben soll.
Die schmale Terrasse ist verdeckt von heruntergerissenen Blättern und Ästen, alles bedeckt mit einer fast winterlichen Schicht aus Eiswürfeln. Die Stimmung gespenstisch, als der Hagel vorbeigezogen ist. Nur ein andauernder Wind bleibt bestehen, sonst Stille.
Auf dem Weg zur Küche stolpern wir fast über einen durchnässten Vogel, der verängstigt auf der Türschwelle sitzt und nach oben blickt.
Der regennasse Hund winselt vor der Tür und ist so verängstigt, dass er sich ausnahmsweise im Haus zusammenrollen darf. Der Vogel in einem Karton und wir leuchten mit der Taschenlampe in die Dunkelheit, ob wir irgendwelche schlimmeren Sturmschäden sehen, aber nichts ist auf einen ersten Blick erkennbar.
Dann, irgendwann, endlich schlafen.
Der Vogel ist am nächsten Tag wieder munter und fliegt sofort in die Bäume. Unfassbar viel Gewusel, alle Vögel nutzen die Gelegenheit, die am Boden liegenden Ästchen zum Nest-Ausbessern und Bauen zu nehmen, streiten sich wie immer lautstark und kämpfen mit überdimensionalen Ästen, Selbstüberschätzung, lassen sie fallen und suchen von Neuem.
Ein paar Küken weniger rennen hinter den Müttern her. Hagelopfer. Ein riesiger Ast ist abgebrochen und wird in den folgenden Tagen zu Feuerholz verarbeitet. Und wir sitzen wieder, wie jeden Tag, in unseren Stühlen, häkeln, lesen, schnitzen und warten auf Neuigkeiten, wann wir uns wieder wegbewegen können.
