
Eine Sportanlage, ein Veranstaltungsraum und zwei große Flächen, alle paar Meter ein Baum in ordentlichen Reihen. Der eine Platz voll Grillplätzen, Öfen und Brotzeitbänken und einer vierköpfigen Gruppe mit lautem Gitarrenverstärker, aus dem überraschend gute Musik schallt. Das Zelt daneben aufgebaut. Wir gehen ein paar Baumreihen weiter, immer noch im Sicht- und Hörbereich, aber das ist man hier immer. Der Boden festgetretene, staubige Erde, nur um die Wasserstellen aufgeweicht und matschig. Ein kleines Hunderudel beschnuppert Neuankömmlinge. Wir stellen unsere Rucksäcke ab, überqueren den kleinen Pfad, auf dem vereinzelt Spaziergänger zwischen Campingplatz und Fluss flanieren, und verstehen, warum man hier länger bleiben will.

Der Fluss fließt breit um eine kleine Insel, voll bewachsen mit unterschiedlichsten Grüntönen. Verschiedenste Vögel im Wasser und über uns, wieder hängen die schweren Astballen in den Bäumen. Es ist sofort klar, dass wir hier einen freien Tag verbringen wollen.
Wir fragen die Gruppe, wo ein Kiosk oder Supermarkt sei. Ersteres schon zu und letzteres in der Stadt, Aber was braucht ihr denn? Eine Flasche Wein und Bier wird uns in die Hand gedrückt, wir sind zu müde um uns zusammen zu setzen und gehen nach dem Essen früh schlafen.
Wieder nicht viel. Die Musikbox verstummt kein einziges Mal in der Nacht und während anfangs nur der Rock lauter wird, wozu man noch dösen kann, wird irgendwann das mitgebrachte Mikrofon angeschlossen und aus vollem Hals mit merkbar Alkohol – und wahrscheinlich mehr – gesungen. Oder so ähnlich.
Komplett gerädert wachen wir aus nicht all zu tiefem Schlaf auf, die Musik läuft immer noch. David packt zusammen, ich mache mich auf den Weg zum Supermarkt. Hinter dem Häuschen der Wasserwacht ist die andere Brach-Campingfläche, lärmgeschützter.
Der Supermarkt ist nicht nur, wie erklärt, bei der Straße, an der wir rausgelassen worden waren, ich bin gut drei Stunden unterwegs. Eigene Musik auf die Ohren und los.

Am frühen Nachmittag sitzen wir endlich neben dem Zelt, die Musik aus der Box nur noch leise zu hören und wir frühstücken spät mit schönem Blick auf das beruhigende Wasser und stellen fest, dass die Vierergruppe doch nicht die einzigen anderen Besucher sind, sondern hier der eigentliche Campingplatz ist. Trotzdem ist nicht viel los. Ein Paar in unserem Alter baut ihr Zelt auf und richtet sich sofort um die Feuerstelle ein und fängt an zu kochen. Tortas fritas. Auf dem Weg zum Kiosk drücken sie uns die fettigen Fladen in die Hand, heiß mit Zimt und Zucker. Es ist ruhig, gemütlich. Kurz in den Fluss zum Abkühlen, lesen, schreiben. Nichts tun. Immer wieder schlendern Menschen an uns vorbei, ein Spaziergang in Ruhe direkt neben der Stadt.
Eine große Gruppe ist fertig mit ihrem Lager, wir beobachten sie schon länger mit einem Auge. Mehrere Autos, Tische und Stühle. Strom von der Steckdose, aber nicht nur zum Handyaufladen oder für die omnipräsenten Wasserkocher. Ein Kühlschrank wird aufgebaut, ein elektrischer Herd mit Ofen. Aus der Musikbox kommen spanische Versionen bekannter, englischsprachiger Lieder.

Wir werden angesprochen. Es ist Martín, einer der immer noch nicht schlafen gegangenen Vierergruppe.
Er war viel in Europa unterwegs, vor allem in Frankreich. Interessiert sich sehr für Reisen und die Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Kurz haben wir Angst, mit einem begeisterten Naziverehrer zusammen zu sitzen, zu oft haben wir schon Verharmlosungen und Bewunderung der NS-Zeit gehört. Bei ihm ist es nicht der Fall, einfach nur Geschichtsinteresse. Einmal redet er von dem Krieg der Deutschen und entschuldigt sich danach überschwänglich, er meine Nazis. Nicht die Deutschen. Ein angenehmer und auch sehr redseliger Gesprächspartner, dank eigener Reiseerfahrung und Französisch-Basics gut verständlich.
Aber die anderen aus der Gruppe hätten leider Vorurteile, gegen Deutsche, Ausländer, Reisende. Ob wir nicht Lust hätten, uns zu ihnen zu setzen und zusammen ein Gespräch zu führen, zu beweisen, dass wir ihrer Vorstellung nicht gerecht würden. Wir willigen ein, wollen los und werden nochmal zurück gehalten.
Er versichert uns, dass wir mit ihm sicher sind, uns nichts passieren kann. Warnungen und Versprechen, die uns auch vertraut, aber zum Glück eigentlich immer unbegründet sind. Und dann erzählt er uns vom Ghetto vor Buenos Aires. Wo er herkommt, wo die anderen herkommen. Von Gangstrukturen und zeigt Narben der Einschusslöcher an seinen Beinen. Gezielt entstanden, mit seinem verkrüppelten Finger, als er mit siebzehn aussteigen wollte. Er ist überall tätowiert, unterschiedlich alte, mit Farbe und in Graustufen. Offensichtlich selbst gestochen, manche professioneller. Im Gesicht, an den Fingern, Armen, Oberkörper. Überall. Immer wieder Narben. Wir machen uns auf den Weg und werden lachend begrüßt.
Pablo, der älteste der Gruppe. Wahrscheinlich Mitte vierzig, wir fragen nicht nach. Er könnte auch dreißig sein, vielleicht auch viel älter, als er aussieht. Oberkörper frei und sein riesiger Bauch glänzt in der Nachmittagssonne. Die Augen rot wässrig, tiefe Augenringe und aus dem breiten Mund ein großes, ansteckendes Lachen, was ihn sympathisch macht. Er fängt sofort an zu reden, bereitet eine Line Koks vor, die wir dankend ablehnen und die sofort von seinem Nebenmann gezogen wird. Ein paar Krümel weißer Staub bleiben auf dem Handydisplay kleben, der Geldschein entrollt sich langsam wieder. Gastón ist jung, um die zwanzig, dünn, trainiert. Die Haut spannt um sein Gesicht, spannt über die Arme. Sie sieht zu klein aus. Auf seiner Brust prangt groß Luna, der Name seiner Tochter. Und Narben, die wir auch an Martín gesehen haben. Verheilte Schussverletzungen und Schnitte. Er nimmt uns kaum war, sein Blick huscht immer wieder über das Gelände. Das spitze Gesicht und die verstohlene Hektik erinnert an einen Wiesel.
Pablo labert, wir verstehen ihn kaum, Martín hilft mit Übersetzungen, wirklich wichtig ist es Pablo nicht, dass wir ihn verstehen. Er gibt der Sonnenbrille einen kleinen Stups und sie fällt auf seine Nase. Mit uns auf der Bank sitzt Pamela. Ihre Haare blondiert, rötlich gefärbt und ausgewachsen, der Kajal dick unter den Augen, sie probiert mit uns zu reden, lacht viel und immer auch ein bisschen entschuldigend, eine Hand immer auf meiner Schulter oder meinem Bein. Langsam finden wir einen Weg miteinander zu sprechen. Alle sind übermüdet und aufgeputscht. Tabak wird raus geholt, wahrscheinlich soll ein Joint gebaut werden, wir sind etwas überfordert mit der Situation, zum gleichen Maße auch fasziniert. Eine Bubble, die fern von unserer ist.

Plötzlich steht Polizei um uns, einmal haben wir sie schon auf Motorrädern weiter hinten auf dem Gelände gesehen, es ist nicht wirklich überraschend, dass sie genau diese Gruppe kontrollieren will. Wir sind überfordert. Einer der vier Polizisten spricht mit uns und der Gruppe, wir können ihm klar machen, dass wir aus Deutschland sind und unser Zelt woanders steht. David geht los, die Reisepässe holen. Ich probiere mit dem Polizisten zu sprechen, frage, ob er vielleicht etwas Englisch spricht und stottere gleichzeitig, in meinem noch sehr ausbaufähigen Spanisch, unsere Reisegeschichte. Er ignoriert mich weitestgehend, fragt die anderen über uns.
Die vier sind Kontrollen offenbar gewohnt, ruhig und reden auch auf mich ein. Ich grinse alle an, Schutzreflex. Martín sagt, Kontrollen gebe es ständig und Fuck the police! Ich glaube, so viel Englisch können auch die Polizisten, sie überhören es. Pablo fragt, ob die Polizei in Deutschland auch so schlimm und gewaltbereit sei wie hier. Auch das wird wahrscheinlich verstanden und zum Glück ignoriert. Einer der Polizisten schnüffelt am Tabak, guckt ins Zelt, wühlt aber nicht allzu tief und ignoriert auch die verräterischen Staubreste und den Geldschein, die auf der Mitte des Tisches meinen Blick fesseln.
Pablo fragt nach dem Graspreis in Deutschland. Ich ignoriere ihn. Die Polizisten kontrollieren die Pässe der Argentinier, wir stehen alle mit verschränkten Armen um den Tisch. Der Polizist lächelt nicht, meine nicht ganz nachvollziehbare Reaktion ist ein noch größeres Grinsen. Herzklopfen und Erleichterung, nüchtern und auch keinen illegalen Besitz. David kommt mit unseren Pässen zurück, Fotos werden gemacht, irgendwas wird aufgeschrieben und sie fahren wieder weg.

Wir können die Situation nicht einschätzen, nicht, warum nur so oberflächlich kontrolliert und so viel ignoriert wurde. Etwas perplex setzen wir uns wieder an den Tisch, Rotwein wird in einen großen Becher gefüllt, der die Runde macht. Alle zünden sich eine Kippe an.
Aus der Box schallt wieder laut Musik, diesmal eigene Handyaufnahmen einer befreundeten Metal-Band. Ein kleines Lächeln von Gastón, ein großes von Pablo, als wir die Musik loben. Er zückt das Karaoke-Mikrofon, das am Gitarrenverstärker angebracht ist, und uns vergangene Nacht den Schlaf geraubt hat.
Pamela zieht mich zum Kiosk, kauf eine weitere Einliterflasche Wein und zieht mich mit auf‘s Klo. Endlich jemand bei ihr für Mädchenklogespräche.
Zurück am Tisch hat Pablo ein Geschenk für uns, eine Küchenmesserklinge, nicht allzu scharf, die er, überraschend treffsicher, an uns vorbei in den Baum hinter uns wirft.
Wir sitzen noch ein bisschen zusammen, nippen am Wein und verabschieden uns irgendwann, reißen uns los von monotonen, einseitigen Kokser-Labergesprächen und gehen zurück zu unserem Zelt.
Erste Polizeikontrolle in Argentinien.
Es hätte sicher einiges schief gehen können, so eine witzige Geschichte.
Wir trinken unseren Wein, sitzen am Fluss und schauen auf die Wellen, machen uns ein kleines Feuer, schmieden Abendessenspläne und Jessi, die uns mit tortas fritas versorgt, kommt dazu, um uns zum asado einzuladen. Natürlich springen wir sofort auf und gehen die paar Meter zu ihrem Zeltplatz. Auf einem Metallrost im Feuer liegen Hühnchenteile und dicke, argentinische Würste, Alex rennt wie Rumpelstilzchen ums Feuer und sucht Sitzgelegenheiten für uns zusammen, aus einer halbierten 2l-Plastikcolaflasche trinken wir Rotwein mit Eiswürfeln, unsere Sprachkenntnisse werden mit jedem Schluck besser, die Sonne verschwindet komplett und plötzlich springen die beiden auf, Taschenlampen werden gezückt und sie rufen sich gegenseitig was in schnellem Spanisch zu. Wir stehen etwas verdattert mit auf, wir bekommen Taschenlampen in die Hand gedrückt und Alex fingert die Fleischstücke vom Rost und zerlegt sie, Jessi sucht das früher vorbereitete Gebäck und Mayonnaise zusammen. Und dann essen. Schnell, los! Jetzt ist das Fleisch perfekt.
Es ist wirklich köstlich und auf den Punkt gegrillt, wir essen zusammen und es wird wieder gemütlicher. Gitarren raus, Blick in die Flammen. Wir gehen recht früh zum Zelt, diese Nacht werden wir mehr schlafen.

Die Sonne verschwindet für die nächsten Tage, zwei bleiben wir noch, haben Zeit zum Wäschewaschen und Nichtstun. Immer mehr und heftigerer Wind zieht auf, macht das Kochen fast unmöglich, in jeder Ritze und im Mundwinkel immer ein paar Sandkörner. Die Zeltnachbarn bauen ihr sowieso schon großes Lager weiter aus, organisieren sich Bauzäune und bauen sich immer weiter ein. Uns reicht unser Zelt, für zwei geräumig genug, und als der Wind wieder abklingt und wir neue Lebensmittel kaufen müssten, machen wir uns wieder auf den Weg. Wollen schauen, ob uns jemand von den angeschriebenen Projekten geantwortet hat, ob wir einen Plan haben und vor allem wollen wir endlich an die Anden.
